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Internationales Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund

Bildungsreise nach Berlin vermittelt Jugendlichen aus Belarus interessante Einblicke in die Erinnerungskultur in Deutschland

Bildungsreise nach Berlin vermittelt Jugendlichen aus Belarus interessante Einblicke in die Erinnerungskultur in Deutschland

Mit vielen interessanten Anregungen für ihr eigenes Geschichtsverständnis sind 18 Jugendliche und drei Lehrer aus Belarus vor wenigen Tagen aus Berlin in ihre Heimatstädte zurückgekehrt. Die Bildungsreise mit dem Titel „Die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust in Biografien von Tätern und Opfern. Zur Erinnerungskultur in Deutschland“ war das Dankeschön für ihre arbeitsintensiven und aufschlussreichen Beiträge zum Oral-History-Wettbewerb. Das IBB Dortmund und die IBB „Johannes Rau“ Minsk hatten den Wettbewerb mit Unterstützung des Auswärtigen Amts im März 2017 zur ersten Präsentation der Wanderausstellung „Vernichtungsort Malyj Trostenez. Geschichte und Erinnerung“ in Belarus ausgeschrieben, um weitere Erinnerungen von Zeitzeugen aus Belarus zu sichern.

Vier Tage lang – von Sonntag, 25. Februar 2018, bis Donnerstag, 1. März 2018 – erkundeten die Wettbewerbsgewinner nun in Berlin, wie die Deutschen mit den schwierigen Kapiteln ihrer Geschichte umgehen. Die Bildungsreise begann im Haus der Wannsee-Konferenz, jenem Ort, wo hochrangige Vertreter der SS, der NSDAP und verschiedener Reichsministerien im Januar 1942 die systematische Ermordung der jüdischen Bevölkerung beschlossen hatten. Die Schüler und Studenten beschäftigten sich mit Täter- und Opferbiografien und aufschlussreichen Dokumenten. Aber auch die Aufarbeitung historischer Ereignisse in Unterhaltungsfilmen wie „Der Vorleser“ war ein Thema. Die meisten Studienreisenden hörten Namen wie den der Filmemacherin Leni Riefenstahl, die Propaganda- und Durchhaltefilme im Auftrag der Nazis gedreht hatte, und der Wissenschaftler Otmar von Verschuer und Heinrich von Treitschke, die offen rassistisch auftraten, auf dieser Studienfahrt zum ersten Mal.

Tatyana Manykina, Mitarbeiterin der heutigen Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, hatte für die Jugendlichen eine interessante Aufgabe vorbereitet: Die Schüler betrachteten Fotos aus den Kriegsjahren und lernten, sie zu analysieren und kritisch zu bewerten. Eine der Quellen für diese Arbeit war ein Fotoalbum der Auschwitz-Überlebenden Lily Jacob.

Eine Exkursion zum Denkmal für alle ermordeten Juden Europas und zum Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma führte den Besuchern aus Belarus die Unterschiede in den Erinnerungskulturen in Deutschland und Belarus sehr deutlich vor Augen. So zeigten sich die Jugendlichen überrascht, dass beide Denkmale in unmittelbarer Nähe der wichtigsten Symbole der Stadt zu finden sind – beide nicht weit entfernt vom Brandenburger Tor.

Am Beispiel der Familie Kozlover lernten die Jugendlichen schließlich auch die „Stolpersteine“ kennen, die jeweils am letzten bekannten Wohnort an Verfolgte und Opfer der Nationalsozialisten erinnern. Die Jugendlichen erfuhren, dass es auch Versuche gegeben hat, Stolpersteine in Minsk zu verlegen. Die geschichtsinteressierten Jugendlichen machten sich gleich an die Arbeit und recherchierten im Internet, welche Websites in Minsk die Biografien Verfolgter festhalten und wie  sie die Erinnerung an Opfer mit ähnlichen Aktivitäten wachhalten könnten.

Einen besonderen Platz im Programm nahm ein Besuch in der Gedenkstätte Sachsenhausen ein: Für die meisten Teilnehmer war dies der erste Besuch in einem ehemaligen NS-Konzentrationslager. Die Jugendlichen aus Minsk und den Orten Slonim, Osipowitschi, Lida, Tscherikow und Tscherwen erfuhren, dass die Anlage schon in ihrer Architektur die „Geometrie des totalen Terrors“ ausdrücken sollte. Dennoch hatten auch hier einige Insassen Widerstand geleistet. Die Jugendlichen beschäftigen sich am Beispiel des früheren KZ Sachsenhausen auch mit der Weiterentwicklung der Erinnerungskultur zu DDR-Zeiten und nach 1989.

Spuren aus Minsk fanden die Jugendlichen beim Besuch der Sophie-Scholl-Oberschule in Berlin und ihres 1943 erbauten und bis heute erhaltenen Bunkers an der Pallasstraße. Bei einer Besichtigung dieses Bunkers stießen die Jugendlichen auf ein großes potentielles Forschungsfeld: Viele Namen von Zwangsarbeitern, die an dem Bau beteiligt waren, sind noch unbekannt. Unter den bekannten Namen entdeckten sie einige Namen von Männern, die aus Minsk nach Berlin verschleppt worden waren.

Schließlich hatten die Jugendlichen noch die Gelegenheit, das Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt zu besuchen. Das Museum erinnert an den Fabrikanten, der während des Zweiten Weltkriegs hauptsächlich blinde und gehörlose Juden beschäftigt hatte. Der Besuch der Ausstellung „Stille Helden“ bot für die Jugendlichen aus Belarus unerwartete Erkenntnisse und regte zu einer Diskussion über moralische Werte damals und heute an. Ein markantes Beispiel für gelebten Humanismus lieferte auch die Biografie von Janusz Korczak, die die Jugendlichen bei einem Besuch im Haus von Janusz Korczak in Berlin näher kennenlernten. Die geschichtsinteressierten Jugendlichen setzten sich nicht nur mit den Aktivitäten dieses außergewöhnlichen Menschen auseinander, sondern probten auch in praktischen Übungen, wie eine respektvolle Kommunikation gelingen kann – selbst bei scheinbar unüberwindbaren Hindernissen wie gegensätzlichen Meinungen und hartnäckigen Vorurteilen.

Die belarussischen Schüler und Studenten waren am Ende tief beeindruckt, welche vielfältigen Formen der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs es in Deutschland gibt. So angeregt, entwickelten die Jugendlichen auch bereits erste Ideen, welche guten Beispiele sie in Belarus umsetzen könnten. Schließlich müsse sich jedes Land intensiv mit der eigenen Vergangenheit beschäftigen.

Die Studienfahrt bildet die Abschlussmaßnahme des IBB-Projektes „NS-Opfer und Vernichtungsorte in Belarus“, das vom Auswärtigen Amt der deutschen Bundesregierung im Rahmen des Programms „Ausbau der Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft in den Ländern der Östlichen Partnerschaft“ von März 2017 bis März 2018 finanziell gefördert wird.

Unser Foto oben zeigt die Gewinner des Oral-History-Wettbewerbs, den das IBB Dortmund und die IBB „Johannes Rau“ Minsk im vergangenen Jahr mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes ausgeschrieben hatten, waren vor einigen Tagen zu Gast in Berlin. Ausgehend von der Gedenkstätte „Haus der Wannsee-Konferenz“ haben sich die Schüler und Studenten intensiv mit der Erinnerungskultur in Deutschland beschäftigt.

Bericht: Antanina Chumakova

Weitere Informationen über den Oral-History-Wettbewerb finden Sie hier.