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Internationales Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund

Delegation aus Minsk gewinnt in der Partnerstadt Bonn wertvolle Einblicke in den inklusiven Arbeitsmarkt

Delegation aus Minsk gewinnt in der Partnerstadt Bonn wertvolle Einblicke in den inklusiven Arbeitsmarkt

Wie gelingt die berufliche Integration von Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland? Antworten auf diese Frage wollte sich eine hochrangig besetzte Delegation aus Belarus unter Leitung des stellvertretenden Oberbürgermeisters der Stadt Minsk, Artiom Tsuran, in Deutschland mit eigenen Augen ansehen. Bonn, offizielle Partnerstadt der Stadt Minsk, war deshalb vom 2. bis 6. Februar 2020 Ziel einer Studienfahrt. Organisiert wurde sie vom Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk gGmbH in Dortmund im Rahmen des Förderprogramms Belarus und vom Amt für Internationales und globale Nachhaltigkeit der Stadt Bonn.

Delegation aus Minsk beeindruckt vom Besuch in Bonn

Die Inklusion von Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen spielt eine wichtige Rolle für die Weiterentwicklung der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie in Belarus. Tagesstätten und Internate für Menschen mit Behinderungen bieten auch in Minsk und in allen Regionen schon jetzt diverse Beschäftigungsmöglichkeiten. Doch zum einen könnte die Nachfrage nach den gefertigten Produkten gesteigert werden, zum anderen gelten Menschen mit Behinderungen aus medizinischen Gründen häufig als nicht oder nur eingeschränkt arbeitsfähig.

Dieses Foto zeigt die Delegation, die ím Rahmen des Förderprogramms Belarus die Stadt und Region Bonn besichtigt hat, bei einem Gedankenaustausch.

Gelegenheit zu einem intensiven Gedankenaustausch bot die Studienfahrt im Rahmen des Förderprogramms Belarus an allen Stationen in der Region Bonn / Rhein-Sieg.

Die Studienfahrt ermöglichte nun einen differenzierten Blick, wie die Beschäftigung von Menschen mit Einschränkungen in Deutschland gelingt und welche Herausforderungen dabei zu bewältigen sind. Der erste Besuchstag begann mit einem Empfang im Rathaus: Bürgermeister Reinhard Limbach begrüßte neben Artiom Tsuran auch Zhanna Ramanovich (Vorsitzende des Komitees für Arbeit, Beschäftigung und sozialen Schutz der Stadt Minsk), Alena Vernikouskaya (stellvertretende Direktorin des staatlichen Minsker sozialen Stadtzentrums für Familie und Kinder), Oleg Chepel (Vorsitzender der Belarussischen Genossenschaft von Sehbehinderten) und Dr. Viktor Balakirev (Direktor der IBB „Johannes Rau“ in Minsk) im Rathaus der Stadt Bonn. Für drei der fünf Besucher aus Belarus war es der erste Besuch in Deutschland.

Qualifizierung für den ersten Arbeitsmarkt

Dieses Foto zeigt die Delegation, die ím Rahmen des Förderprogramms Belarus die Stadt Bonn besichtigt hat, bei einer Diskussionsrunde in den Gemeinnützigen Werkstätten.

Wie gelingt die berufliche Integration von Menschen mit Behinderung in Deutschland? Die Gemeinnützigen Werkstätten Bonn erläuterten ihr Konzept.

Den fachlichen Einstieg bildete der Besuch der Gemeinnützigen Werkstätten Bonn GmbH (GVP) am Dienstag, 3. Februar 2020. Bereichsleiterin Martina Ohlrogge gab einen Einblick in die berufliche Orientierung und Qualifizierung:  Die ersten drei Monate stehen im Zeichen des Ankommens, der Eingangsdiagnostik und Kompetenzanalyse. Auf Grundlage der Ergebnisse wird ein individueller Eingliederungsplan erarbeitet und mit der jeweiligen Person vereinbart, welche Tätigkeiten erlernt werden sollen. Wünsche und Vorlieben werden dabei berücksichtigt. Es folgt dann eine 24-monatige Ausbildungsphase in einem der vier Qualifizierungsbereiche: Büro- und Logistikdienstleistungen, Montage- und Verpackungsdienstleistung, Gastronomie- und Servicedienstleistung oder Lagerlogistik. Nach abgeschlossener Ausbildung kann die Person dann entweder in den Gemeinnützigen Werkstätten arbeiten oder auch an einem externen Arbeitsplatz. Eine besondere Rolle spielen Praktika schon während der Ausbildung: Auch wenn die Mitarbeitenden der GVP-Werkstätten dazu in eine andere Firma wechseln, arbeiten sie doch auf einem (externen) Arbeitsplatz der Werkstätten. Die behinderte Person ist damit weiterhin Mitarbeiter der Werkstatt auf einem geschützten Arbeitsplatz, wird also weiterhin durch die GVP betreut und entlohnt. Knapp ein Viertel der behinderten Klienten arbeiten inzwischen außerhalb – Tendenz steigend. Diese besondere Form der Inklusion, so erfuhren die Besucher aus Belarus, ist Ausdruck eines grundsätzlichen Paradigmenwechsels in den Aufgaben der Werkstätten, der sich vor einigen Jahren vollzogen hat: Ausdrückliches Ziel der Werkstätten ist die Qualifizierung für den ersten Arbeitsmarkt.

Mehr über die Rolle der Unternehmen erfuhr die Delegation im Gespräch mit dem Inklusionsbeauftragten der Industrie- und Handelskammer Bonn/ Rhein-Sieg Ali Osman Atak. Er berät mit großem Engagement Firmen, die Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung schaffen möchten. Denn die IHK wirbt sogar offensiv für die Beschäftigung von Schwerbehinderten, um dem in Deutschland oft beklagten Fachkräftemangel zu entgehen. Die Motivation von Menschen mit einer Schwerbehinderung sei im Durchschnitt höher als von Menschen ohne Schwerbehinderung. Bei der Beantragung von Fördermitteln für die behindertengerechte Ausstattung von Arbeitsplätzen hilft der Inklusionsbeauftragte.

Mit dem Netzwerk Bonn fairbindet hat die Region ein Bündnis geschmiedet, dem Kommunen, Berufsverbände, Jobcenter und Unternehmen aus Bonn und Umgebung angehören. Geschulte Ansprechpartner informieren zielgerichtet Unternehmen über Vorschriften und Fördermittel und Arbeitsuchende über Jobperspektiven. Die Region ist mit Bonn fairbindet inzwischen ein Vorreiter in der Schaffung von behindertengerechten Arbeitsplätzen.

Betreutes Wohnen ermöglicht Selbstständigkeit

In Bad Honnef lernte die Delegation schließlich eine besondere Form des betreuten Wohnens kennen. Menschen mit Behinderung leben in einem restaurierten Schloss, das früher als Lungensanatorium diente und sogar schon die russische Zarenfamilie zur Erholung beherbergt haben soll. Erwachsene mit schwereren geistigen und körperlichen Behinderungen können allein oder als Paar in größtmöglicher Selbstständigkeit leben, erhalten jedoch auch alle Unterstützung, die sie brauchen.

In der PAUKE Bonn-Rhein-Sieg gGmbH besuchte die Delegation schließlich ein Projekt zur Wiedereingliederung von ehemaligen Drogenabhängigen. 1982 gegründet wollte der  Selbsthilfeverein Pauke e.V. Strukturen schaffen, die Drogenabhängige nach absolvierter stationärer Therapie unterstützen. Heute betreibt die gemeinnützige GmbH ein Restaurant und Bistro, bietet betreutes Wohnen, unterstützt Selbsthilfegruppen und bietet Menschen mit Suchtproblematik und psychischen Beeinträchtigungen auch Hilfen bei der beruflichen Wiedereingliederung.

Dieses Foto zeigt die Delegation, die ím Rahmen des Förderprogramms Belarus die Stadt Bonn besichtigt hat, bei einer Diskussionsrunde über den Teilhabeplan der Stadt Bonn.

Welche Gremien und Akteure haben mitgewirkt an der Erstellung des Teilhabeplans der Stadt Bonn? Diese Frage erörterte die Delegation zum Abschluss der Studienfahrt mit Vertreterinnen des Sozialamtes der Stadt Bonn.

Nach den eindrucksvollen Besichtigungen und Begegnungen stand zum Abschluss eine Diskussion über die Rolle der Kommune auf dem Programm. Brigitte Schrick und Dr. Nina Retzlaff vom Sozialamt der Stadt Bonn stellten den behindertenpolitischen Teilhabeplan der Stadt Bonn vor. An der Erarbeitung hatte eine Vielzahl von Akteuren aus verschiedenen Verwaltungen und Unternehmen  mitgewirkt. Seit 2011 wird der Plan schrittweise umgesetzt.

Die Gäste aus Belarus erstaunte besonders, wie auch Unternehmen in das Projekt Inklusion einbezogen werden, die selbst nicht in der Lage sind, behindertengerechte Arbeitsplätze zu schaffen. Sie erfuhren, dass Betriebe durch Aufträge an Behindertenwerkstätten ihre sonst fällige Ausgleichsabgabe verringern können. Dies wiederum erhöht die Absatzchancen der inklusiv aufgestellten Unternehmen. Beeindruckt stellte die Delegation auch fest, dass Menschen mit Behinderung in Deutschland grundsätzlich als zumindest teilweise arbeitsfähig gelten und in Entscheidungsprozesse einbezogen werden – auch wenn sie von einem gesetzlichen Betreuer begleitet werden. Entscheidend für das Gelingen der beruflichen Integration sei offenbar ein gutes Zusammenwirken von fachlicher und pädagogischer Betreuung.

Beim Abschlussgespräch im Alten Rathaus wurde dann auch vereinbart, dass der Fachaustausch vertieft werden soll insbesondere zu den Themen Eingangsdiagnostik, Kompetenzanalyse und Berufsausbildung.

Am Donnerstag, 6. Februar 2020, machte sich die Delegation auf ihren Rückweg nach Minsk, nicht ohne eine Gegeneinladung ausgesprochen zu haben: Auf dem Regionalen Nachhaltigkeitsforum Ende Mai 2020 soll der in Bonn begonnene Fachaustausch fortgesetzt werden.

 

Unser Foto oben zeigt die Gruppe beim Empfang im Bonner Rathaus: (v.l.n.r.) Alena Vernikouskaya, stellvertretende Direktorin der staatlichen Einrichtung „Minsker Stadtzentrum für Familie und Kinder“, Dr. Astrid Sahm, Geschäftsführerin des IBB Dortmund (IBB gGmbH), Reinhard Limbach, Bürgermeister der Stadt Bonn, Artiom Tsuran, stellvertretender Oberbürgermeister der Stadt Minsk, Zhanna Ramanovich, Vorsitzende des Komitees für Arbeit, Beschäftigung und sozialen Schutz der Stadt Minsk, Oleg Chepel, Vorsitzender der gesellschaftlichen Vereinigung „Belarussische Genossenschaft von Sehbehinderten“ und Dr. Viktor Balakirev, belarussischer Direktor der IBB „Johannes Rau“ Minsk. Foto: Bundeshauptstadt Bonn

Weitere Informationen über das Förderprogramm Belarus finden Sie hier.