Erste Studienreise im transnationalen Projekt zu Malyj Trostenez: Privates Engagement ist oft ein starker Antrieb für eine lebendige Erinnerungskultur

Erste Studienreise im transnationalen Projekt zu Malyj Trostenez: Privates Engagement ist oft ein starker Antrieb für eine lebendige Erinnerungskultur

Sie durften einen Blick werfen in die Schatzkammer des Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, führten Zeitzeugengespräche mit den Holocaust-Überlebenden Kurt Marx und Felix Lipski und wurden spontan in Wien für eine US-amerikanische Dokumentation interviewt: Aus ihrer intensiven zwölftägigen Studienfahrt nach Wien, Bonn und Köln im Rahmen des transnationalen historischen Lernprojekts zum Vernichtungsort Malyj Trostenez zogen die 16 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Belarus, Österreich und Deutschland vor allem eine Erkenntnis: Erinnerungskultur ist nicht ein fertiges Ergebnis, sondern ein laufender Prozess. Oft angetrieben vom Engagement von Privatpersonen und kleinerer Initiativen entstehen häufig erst vergleichsweise spät nachhaltige Strukturen zur dauerhaften Erinnerung historischer Ereignisse, die nicht in Vergessenheit geraten sollen.

Zum ersten Mal seit dem Projektauftakt im Januar trafen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Belarus, Österreich und Deutschland mit den Projektleitenden Darija Fabijanic (r.) von der IBB gGmbH Dortmund und Dr. Alexander Dalhouski (6.v.r.) von der Geschichtswerkstatt „Leonid Lewin“ Minsk persönlich.

Im Januar hatte das auf 14 Monte angelegte transnationale Projekt des Bundesprogramms „Jugend erinnert“ coronabedingt noch mit einer virtuellen Konferenz begonnen. Fast ein Jahr lang hatten sich die jungen Erwachsenen aus Belarus, Österreich und Deutschland in ungezählten Online-Sitzungen und E-Mail-Korrespondenzen mit der Geschichte des Vernichtungsortes Malyj Trostenez beschäftigt. Ihr gemeinsames Ziel: Podcasts und öffentliche Veranstaltungen sollen den in Westeuropa immer noch wenig bekannten Vernichtungsort in Belarus stärker ins Bewusstsein rücken. Am 17. September 2021 trafen sie sich nun zum allerersten Mal persönlich in Wien. Denn aus Wien, Köln und Bonn – weiteren Zielen ihrer Studienreise – waren Anfang der 1940er Jahre Tausende nach Minsk deportiert worden. Die historischen Orte mit eigenen Augen sehen. Forschende und Überlebende treffen. Selbst einen Eindruck gewinnen, wie die Erinnerung ihren Platz findet im öffentlichen Raum. O-Töne sammeln. Diese Ziele sollte die Studienfahrt, organisiert von IBB-Referentin Darija Fabijanic, erfüllen.

In Wien besuchte die Gruppe das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands und das Haus der Geschichte Österreich. Wie kam es zum Anschluss Österreichs 1938 und wie wird die NS-Zeit heute erinnert? Welche Rolle spielte Antisemitismus in den 1930er Jahren? Wie wird heute der Opfer gedacht? Wurden Täter verurteilt? Bei einer Stadtführung ging es zu den letzten Meldeadressen von später Deportierten, zu den früheren Sammellagern und schließlich zum Aspang-Bahnhof – dem Ausgangspunkt der Zugfahrt, die angeblich nur der Umsiedlung dienen sollte, in Wirklichkeit aber in den sicheren Tod führte.

Blick auf die stilisierten Gleise des früheren Aspangbahnhofs in Wien. Das Mahnmal erinnert an 47.035 Deportierte.

Ein Mahnmal erinnert seit 2017 in Wien an die Deportationen vom Aspangbahnhof.

Am Bahnhof stieß die Gruppe zufällig auf eine Amerikanerin und ein Filmteam. Sie erzählte dort von ihrer privaten Spurensuche und von der Deportation ihrer Großeltern nach Riga. Sie berichtete auch, dass sie über den Verbleib ihres anderen Großelternpaares bedauerlicherweise nichts wisse. Die Studienreisenden konnten die Frage mit trauriger Gewissheit beantworten: Die Namen der Großeltern standen auf der Liste der nach Minsk Deportierten.

Die Reisegruppe hatte die Listen bei sich – und weckte damit das Interesse des Filmteams, das gleich Interviews aufnahm.

Wie die Menschen in Österreich mit ihrer Geschichte umgehen, erarbeitete die Gruppe am Beispiel von Gerichtsakten aus den 1970er Jahren: Am 9. Oktober 1970 hatte der Prozess gegen den gelernten Friseur und späteren Gaswagenfahrer Josef Wendl mit einem Freispruch geendet. [1] Damals waren die Ereignisse in Malyj Trostenez ein einziges Mal in Österreich Gegenstand eines Gerichtsverfahrens, das zu einem Urteil führte, berichtete Claudia Kuretsidis-Haider den jungen Erwachsenen. Und dieses Urteil war ein Freispruch.

Unser Foto zeigt den Historiker Winfried Garscha, der über die Forschung zum Thema Malyj Trostenez berichtet.

Historiker Winfried Garscha schilderte den Gästen, auf welche Vorbehalte und Hindernisse die Geschichtswissenschaften in der Nachkriegszeit gestoßen sind.

Zudem traf die Gruppe aus Studierenden und Berufsanfängern den Historiker Winfried Garscha, der zu den wenigen gehört, die sich in Westeuropa intensiv mit der Geschichte des Vernichtungsortes Malyj Trostenez beschäftigt haben. Er berichtete, wie die sowjetische Kommission 1944 den Vernichtungsort entdeckt hatte und zunächst von 206.500 Opfern ausging – was nach aktuellem Stand der Forschung als zu hoch gegriffen gilt. Bei einer weiteren Begegnung lernte die Gruppe Waltraud Barton kennen, die in den 2010er Jahren in Wien gemeinsam eine Initiative zur Erinnerung an Malyj Trostenez ergriffen hatte und zusammen mit anderen Hinterbliebenen durch gelbe Schilder im Wald von Blagowschtschina an die Ermordeten erinnert. Sie schilderte auch, welche Hindernisse sie überwinden musste, bis 2019 das österreichische Mahnmal „Massiv der Namen“ in Belarus der Öffentlichkeit übergeben werden konnte. In Arbeitsgruppen hatten die Jugendlichen zudem Gelegenheit, selbst an Biografien zu arbeiten. Inspiriert durch die Gespräche mit Akteuren der Erinnerungskultur diskutierten die Studienreisenden in Arbeitsgruppen auch über unterschiedliche Blickwinkel auf die Geschichte und wie verhindert werden kann, dass sich Zerrbilder über Täter und Opfer in die Erinnerungskultur einschleichen können.

Per Zug reiste die Gruppe am 22. September 2021 dann weiter nach Bonn, der nächsten Station ihrer Vor-Ort-Recherchen.

Blick auf Stolpersteine

In Wien waren es eher Gedenktafeln an den Hauseingängen. In Bonn und Köln erinnern meist Stolpersteine an frühere Bewohnerinnen und Bewohner.

Bei einer Stadtführung in der Partnerstadt der Stadt Minsk ging es unter anderem zum Platz der Bücherverbrennung und zum Platz der früheren Synagoge. In Gesprächen schilderten Lioba Niederhoff und Klaus Schlotterose von der Gedenkstätte und NS- Dokumentationszentrum Bonn, wie sie Erinnerungen und Lernorte sichern und Dokumente der Öffentlichkeit zugänglich machen.

Ein weiteres Beispiel für die Weiterentwicklung der Erinnerungskultur: Das Kloster Bonn-Endenich.

Näher beschäftigte sich die Gruppe mit der Geschichte des Ortes, der heute das Priesterseminar Bonn-Endenich beherbergt. Während der NS-Zeit diente das Kloster aus dem 15. Jahrhundert als Sammellager für Juden. Sie durften dort zwar besucht werden. Doch die Aufseher beobachteten genau, wer die Ausgegrenzten besuchte und sorgten für Sanktionen. Bislang weist nur eine Gedenktafel auf die frühere Nutzung hin. Das dunkle Kapitel der Geschichte dieses Ortes wird erst heute für die Erinnerungskultur erschlossen und erforscht, erfuhren die Gäste.[2] Erst 2019 stimmte das Erzbistum Köln der Einrichtung eines Gedenkortes im Wirtschaftsgebäude des Klosters zu.

In Workshops beschäftigte sich die Gruppe auch genauer mit den Biografien von vier Bonner Familien, die nach Minsk und Trostenez deportiert worden waren. In einem Zoom-Gespräch lernte die Gruppe Susan Heimann und Julia Trencher kennen, Angehörige der Familie Mamlock, die heute in den USA leben. Die Enkelin und Urenkelin schilderten in beeindruckender Weise, was sie aus der Verfolgung ihrer Vorfahren gelernt haben. Heute engagiert sich insbesondere die Urenkelin gegen Ausgrenzung und unterstützt Zuwandernde aus Südamerika.

Bei einem Besuch in Köln schließlich besuchte die Gruppe den Lernort Jawne und das heutige NS-Dokumentationszentrum im EL-DE-Haus, wo die Gruppe in einer exklusiven Führung auch die ehemaligen Zellen im Kellergewölbe besichtigen durfte. Das frühere Gestapo-Gefängnis war erst Ende des vorigen Jahrhunderts als Erinnerungsort erschlossen worden, ebenfalls aufgrund einer privaten Initiative. Noch in den 1970er Jahren hatten junge Leute dort, wo in der NS-Zeit heute unvorstellbares Unrecht verübt worden war, Ehen geschlossen. Ein weiteres Ziel auf der Besichtigungsroute war das frühere Deportationslager Köln-Müngersdorf – ebenfalls ein Ort, an dem erst spät, nämlich im vergangenen Jahr, ein Denkmal errichtet wurde.

Unser Foto zeigt den Holocaust-Überlebenden Kurt Marx, der per Online-Konferenz mit den Jugendlichen diskutierte.

Kurt Marx war per Zoom-Konferenz aus London zugeschaltet.

Ein Höhepunkt der Studienreise waren schließlich die Zeitzeugengespräche mit Kurt Marx, der heute in England lebt, und Felix Lipski aus Belarus, dessen Mutter im Widerstand aktiv war, und der zurzeit in Deutschland lebt. Kurt Marx berichtete, wie er vom Schulleiter des jüdischen Jawne-Gymnasiums, Erich Klibansky, mit weiteren Schülerinnen und Schülern nach London verbracht und vor dem sicheren Tod gerettet worden war. Seine Eltern wurden hingegen ebenso wie der Schulleiter, viele Lehrkräfte und Klassenkameraden in Malyj Trostenez ermordet. Felix Lipski schilderte seine Erinnerungen an das menschenunwürdige Leben im Minsker Ghetto. „Interessant für die Teilnehmenden war besonders auch die Haltung der Zeitzeugen zu Deutschland heute“, schilderte Darija Fabijanic. „Beide lobten die lebendige Erinnerungskultur und die Lehren, die die Deutschen aus ihrer Geschichte gezogen haben. Beide wiesen aber auch darauf hin, dass es noch Lücken in den Erinnerungskulturen in Deutschland ebenso wie in anderen Ländern gibt.“

Die Teilnehmenden am Lernprojekt Trostenez beim Empfang im Rathaus der Stadt Köln.

Andreas Wolter, stellvertretender Bürgermeister der Stadt Köln, hatte die Gruppe im Rathaus empfangen zu einem Gespräch über den Wandel der Erinnerungskultur.

Bei einem Gespräch mit Rafi Rothenberg, dem Vorsitzenden der Jüdischen Liberalen Gemeinde Köln, ging es zum Abschluss auch um das jüdische Leben in Deutschland heute. Die jüdische Kultur sei heute leider noch immer kein eigenständiges Thema der öffentlichen Wahrnehmung, beklagte Rothenberg, sondern werde von den Medien lediglich im Kontext mit Antisemitismus erwähnt. Andreas Wolter, stellvertretender Bürgermeister der Stadt Köln, begrüßte die Studienreisenden zum Abschluss im Rathaus. Er hatte 2018 als Vertreter der Stadt Köln an der Eröffnung des Gedenkstättenabschnitts im Wald von Blagowschtschina teilgenommen und engagiert sich für eine lebendige Erinnerungskultur. Er berichtete, wie die Stadt Köln Gedenktage mitgestaltet und Initiativen unterstützt.

Die Reisegruppe arbeitete bereits in den gemeinsamen Workshops an Podcast-Skripten und an der Planung der öffentlichen Veranstaltungen. Die Ergebnisse werden in den kommenden Wochen präsentiert.

Das transnationale Geschichtsprojekt des Bundesprogramms „Jugend erinnert“ wird vom Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund (IBB gGmbH) und der Geschichtswerkstatt „Leonid Lewin“ Minsk koordiniert. Projektpartner sind das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, das Jüdische Museum Prag, die Gedenkstätte und NS-Dokumentationszentrum Bonn und der Lern- und Gedenkort Jawne in Köln.

Das 14 Monate dauernde Geschichtsprojekt wird gefördert von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft aus Mitteln des Auswärtigen Amts.

Fotos: Yana Bondar – IBB gGmbH Dortmund

[1] https://www.doew.at/cms/download/32caa/jb2019_kuretsidis.pdf

[2] https://bonnerleerstellen.net/kloster-endenich-2/

Weitere Informationen über unsere Initiative für den Lernort Trostenez finden Sie hier.