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Internationales Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund

Europa-Kolumne 4: Gegen das Vergessen und für mehr Verständnis

Europa-Kolumne 4: Gegen das Vergessen und für mehr Verständnis

Dilan M. ist 22 Jahre alt, kommt aus Lünen-Brambauer und lebt seit zwei Jahren wegen ihrer Ausbildung und ihres Studiums in Dortmund. Unter den 105 Menschen ihres Abiturjahrgangs haben nur vier einen türkischen Hintergrund. Am Ende erreichen drei von ihnen die Allgemeine Hochschulreife. Ein Mann, zwei Frauen. Eine davon ist Dilan. Sie macht seit vergangenem August eine Ausbildung. Nebenbei studiert sie.

Dilan ist kurdische Alevitin. Aleviten stellen die zweitgrößte Glaubensgruppe in der Türkei dar und unterscheiden sich in einigen Punkten vom islamischen Mainstream. Sie beten nicht in Moscheen und Glaube ist eher Privatsache. Dilan sagt: „Es gibt türkische und kurdische Aleviten. Manche Leute sagen, Aleviten seien keine Muslime, weil sie nicht nach dem Koran leben.“

Im Alevitentum ist Homosexualität nicht verpönt. Und noch etwas ist anders als bei vielen anderen Muslimen: Männer, Frauen und Kinder beten immer zusammen. Es gibt keine Geschlechtertrennung. Dilan erklärt: „Jeder Mensch ist beim Eintritt als Seele zu betrachten.“ Aleviten gelten einigen Muslimen als Ungläubige. Auch mit dieser Begründung wurden sie jahrhundertelang verfolgt – vor allem von Muslimen, die sich als Hüter des Islams verstehen.

Der Namensumbenennung zum Opfer gefallen

Dilan berichtet: „Vorurteile gegenüber Aleviten gibt es auch heute noch. Sunniten reagieren häufig nicht so gut“. Aber auch als Kurdin schlägt ihr Abneigung entgegen: Auf der Realschule beschimpfen Jungs sie als „Scheißkurde“. Ab der 8. Klasse beginnt sie, sich gegen die Beleidigungen zu wehren. Sie versucht zu argumentieren und entscheidet, sich bei der alevitischen Jugendorganisation ihrer Gemeinde zu engagieren. „Manchmal ist Jugendlichen der Hintergrund nicht bewusst“, sagt die 22-Jährige. „Sie wissen nicht, was es bedeutet, wenn man Alevitin ist.“ Seitdem engagiert sie sich ehrenamtlich in der Ortsjugend ihrer alevitischen Gemeinde. Für Tierschutz, gegen Homosexuellenfeindlichkeit.

Als Kurdin hat sie in manchen Punkten eine schwierige Beziehung zum türkischen Staat. Dilan erzählt die Geschichte von Dersim, der Heimatstadt ihrer Eltern in Ostanatolien. Dort hat das türkische Militär 1938 mit 50.000 Soldaten die kurdische Bevölkerung der Region angegriffen. Die Soldaten haben bis zu 70.000 Menschen erschossen, erstochen, bombardiert, deportiert. Dersim heißt heute Tunceli. Es ist der türkischen Praxis der Namensumbenennung zum Opfer gefallen. Auch deswegen engagiert sich Dilan – gegen das Vergessen und für mehr Verständnis

Handykontrollen und Einreiseverbot

In den Ferien macht Dilan regelmäßig Urlaub in der Türkei, um ihre Familie zu besuchen. Immer häufiger gibt es Probleme bei den Kontrollen am Flughafen. „Ich fühle mich dort unwohl. Nicht wie in Europa. In Europa behandeln einen die Menschen nicht anders. Überall herrschen ähnliche Gesetze. Man kann sich in jedem Land wohlfühlen.“ Einige aus ihrer Familie haben ein Einreiseverbot in die Türkei bekommen.

Einmal picken die Beamten ihre Cousine bei einer Grenzkontrolle heraus, nehmen ihr das Handy ab und halten sie 24 Stunden lang fest. Sie bekommt Panik und weint. Als Kurdin ist sie Teil einer in der Türkei verfolgten Gruppe und hat Erdogan-kritische Inhalte auf ihrem Handy. „Sie durfte nicht in die Türkei einreisen. Am nächsten Tag haben sie sie in den Flieger gesetzt und zurück nach Hause geschickt“, so Dilan.

Wenig später passiert ihr genau das gleiche. Als die türkischen Grenzbeamten Dilan das Handy wiedergeben, sagen sie: „Sie haben Nachrichten bekommen, während wir ihr Handy an unseren Computer angeschlossen haben.“ Dennoch: Dilan darf einreisen. Sie findet, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sollten aufhören: „Europa will keinen Krieg und keine Diktatoren, aber in der Türkei läuft es diktatorisch. Europa gibt mir den Mut, meine Meinung zu sagen. In der Türkei werden Menschen schon für die falsche Ansicht in den Knast gesteckt.“

Chantal Stauder