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Internationales Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund

Europäische Aktionswochen „Für eine Zukunft nach Tschernobyl und Fukushima“: Mit dem Wissen aus der Erinnerung Zukunft gestalten

Europäische Aktionswochen „Für eine Zukunft nach Tschernobyl und Fukushima“: Mit dem Wissen aus der Erinnerung Zukunft gestalten

33 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl und acht Jahre nach dem Super-Gau in Fukushima hat der Trägerkreis Kiel im Rahmen der Europäischen Aktionswochen „Für eine Zukunft nach Tschernobyl und Fukushima“ 18 Veranstaltungen in drei Ländern organisiert: Bewegende Zeitzeugengespräche mündeten in Workshops, die einen Bogen zur Fridays-for-future-Bewegung spannten. Jugendliche entwickelten Ideen für ihre Zukunft 2030. Nach dem Auftakt vom 11. bis 15. März 2019 in Schleswig-Holstein / Deutschland setzte der Trägerkreis Kiel das Programm vom 22. bis 30. April 2019 in der Ukraine und in Belarus fort. IBB-Pressereferentin Mechthild vom Büchel sprach mit Martin Kastranek, Mitglied im Vorstand der Heinrich Böll Stiftung in Schleswig-Holstein und im Trägerkreis Kiel, über die Hintergründe der Aktivitäten und was sich daraus für die kommenden Jahre entwickeln kann.

Frage: Herr Kastranek, Sie sind gerade zurück aus Belarus. Was haben Sie von ihren jungen Gesprächspartnern in den drei Ländern gelernt?

Martin Kastranek: Wir haben in allen drei Ländern Zeitzeugengespräche kombiniert mit anschließenden Workshops. Die Zeitzeugengespräche waren inhaltlich unterschiedlich. Die Ergebnisse der Workshops waren tatsächlich in allen Gruppen und in allen drei Ländern sehr ähnlich. Ihre Umwelt wünschen sich die jungen Menschen in Zukunft nachhaltiger. Regenerative Energien sollen eine größere Rolle spielen. Energie soll sparsam eingesetzt werden. Ressourcen sollen insgesamt geschont werden. In allen drei Ländern ist es den jungen Menschen durchaus bewusst, dass sich auch ihr eigenes Mobilitätsverhalten verändern muss zum Beispiel hin zu einer stärkeren Nutzung des Fahrrades und des öffentlichen Nahverkehrs.

Trägerkreis Kiel organisiert Veranstaltungen in drei Ländern

Frage: Eine Frage für die Statistik als Einstieg: Wie viele Veranstaltungen haben Sie denn insgesamt organisiert und wie viele Menschen haben Sie erreicht?

Martin Kastranek: Wir hatten in Schleswig-Holstein 14 Veranstaltungen in unterschiedlichen Formaten wie Vortrag, Planspiel, Gesprächskreis oder Workshop und wir waren in zehn Schulen in Kiel, Wilster, Lübeck, Itzehoe, Rendsburg, Eggebek und Bad Bramstedt. Insgesamt haben wir 800 Teilnehmerinnen und Teilnehmer erreicht.

In der Ukraine waren wir in der Schule 134 und in der Geschichtswerkstatt Charkiw mit einer Gruppe von 40 Studierenden.

In Belarus waren wir in drei Schulen in Minsk und Molodetschno.  Insgesamt haben wir in der Ukraine und Belarus etwa 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer erreicht.

Frage: Wie ist es Ihnen gelungen, Aktivitäten zu den Europäischen Aktionswochen „Für eine Zukunft nach Tschernobyl und Fukushima“ in drei Ländern anzubieten?

Martin Kastranek: Wir konnten alle diese Pläne verwirklichen dank der Unterstützung durch die Heinrich Böll Stiftung, die IBB gGmbH und durch KJP-Mittel des Landes Schleswig-Holstein.

Aufmerksam verfolgen die Schülerinnen und Schüler in der Schule 134 in der Ukraine den Bericht des Zeitzeugen Oleg Geraschtschenko.

Frage: Wie konnten Sie sich mit den Schülerinnen und Schüler in der Ukraine und Belarus verständigen?

Martin Kastranek: Wir waren in Charkiw in der Schule Nummer 134, die einen Schwerpunkt auf den Fremdsprachenunterricht in Deutsch legt. Ich habe meinen Input-Vortrag auf Deutsch gehalten. Anschließend konnten die etwa 50 Schülerinnen und Schüler noch einmal Verständnisfragen stellen und es zeigte sich, dass sie alles sehr gut verstanden hatten. In Minsk waren wir zu Gast in der Schule Nummer 40. Dorthin kamen Schülerinnen und Schüler aus drei weiteren Schulen. Und schließlich waren wir noch in Molodeschno, etwa 70 Kilometer nördlich von Minsk. Auch dort, in der Schule Nummer 10 lernen die Schülerinnen und Schüler Deutsch. Die Jugendlichen hatten teilweise sehr gute Deutschkenntnisse, und für alle Fachbegriffe hatten wir ja auch noch Dolmetscher an unserer Seite.

Frage: Wie kamen die Berichte der Zeitzeugen an?

Martin Kastranek: Insgesamt sehr gut. Bei allen Zeitzeugengesprächen waren die Jugendlichen sehr aufmerksam. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Aber besonders der sehr redegewandte 16-jährige Matsuki Kusano aus Japan war durch sein junges Alter sehr nah an den Schülern.

Frage: Welche Aspekte haben die Zeitzeugen denn jeweils in den Mittelpunkt gestellt?

Martin Kastranek: In Schleswig-Holstein hatten wir mit Tatjana Sementschuk eine Zeitzeugin aus der Ukraine zu Gast. Sie lebte zur Zeit des Tschernobyl-Unglücks 1986 in Pripjat und war damals im siebten Monat schwanger. Erst nach Tagen wurden sie und die weiteren Bewohner über das Unglück informiert. Sie floh in das nur etwa 50 Kilometer entfernte Dorf Wiltscha zu ihren Eltern. Anfang der 1990er Jahre wurde das Dorf komplett umgesiedelt in die Nähe von Charkiw. Man hatte festgestellt, dass auch in Wiltscha die Strahlung zu hoch war.

Wladimir Sednjow aus Belarus ist bis heute als Ingenieur tätig. 1986 war er beruflich beteiligt am Bau eines Atomkraftwerks in Belarus. Im September 1986 wurde er für drei Monate nach Tschernobyl abkommandiert. Er schilderte, dass damals im Herbst noch immer regelmäßig schwarzer Rauch aufstieg aus Block 4 des Atomkraftwerks.

Und die vierköpfige Familie Kusano aus Japan schilderte uns die Situation in Japan, ein Jahr vor der Olympiade 2020 in Tokio. Die Familie lebte 2011 in Fukushima und flüchtete nach dem Tsunami und dem dadurch ausgelösten Super-Gau nach Tokio. Dort hält die Familie ihre Herkunft aber geheim, weil die Flüchtlinge aus Fukushima in der japanischen Gesellschaft als unrein gelten und gemieden werden. Inzwischen hat die Regierung angeordnet, dass die Flüchtlinge in die Region Fukushima zurück sollen.  Die Brennstäbe sind noch immer nicht aus dem havarierten Kraftwerk geborgen. Die schwarzen Säcke mit kontaminierten Materialien, die viele sicher aus den Fernsehberichten kennen, werden inzwischen beseitigt und offenbar zum Deichbau verwendet oder in Wäldern vergraben. Die Regierung behauptet, die Strahlung sei Geschichte. Unabhängige Messungen sind aber offiziell verboten. Inoffizielle Messungen zeigen allerdings, dass die Strahlung stellenweise noch immer hoch ist. Weil nicht offen berichtet wird, leben die Menschen in großer Angst. Matsuki hat die verzweifelte Situation der Fukushima-Flüchtlinge in einem Brief an den Papst und die Vereinten Nationen beschrieben. Seine Schilderungen brachten auch den Jugendlichen in Schleswig-Holstein die Lage der Familie sehr nah. Zudem hatten die Zeitzeugen eine Video-Botschaft eines Mädchens aus Fukushima mitgebracht, das Kontakt aufnehmen möchte zu Gleichaltrigen in Deutschland.

In der Ukraine hat uns Oleg Geraschtschenko begleitet, der extra aus Dnipro nach Charkiw angereist war. Er war im Juni und Juli 1986 als Brandschutz-Mitarbeiter des Innenministeriums in Tschernobyl im Einsatz und organisierte die Hilfsmaßnahmen. Er konnte sehr gut die Lage damals und die Gefühle der Einsatzkräfte beschreiben. Und in Belarus schließlich waren wir in Molodetschno mit Wladimir Sednjow unterwegs, der uns ja zuvor in Deutschland besucht hatte. In Minsk begleitete uns Zhanna Filomenko, die zur Zeit des Unglücks in der Region Gomel lebte und ab April 1986 in der Tschernobyl als Liqudidatorin eingesetzt war.

Perspektiven entwickeln für die Zukunft

Frage: Die Berichte der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen haben den Jugendlichen sicherlich gut vor Augen geführt, was eine solche Katastrophe und ihre lange anhaltenden Folgen für den Einzelnen bedeuten. Warum haben Sie nach so viel Input noch einen Workshop angehängt?

Martin Kastranek: Wir wollten es nicht beim Erinnern belassen, sondern auch einen Blick in die Zukunft lenken. Außerdem haben wir mit Gilbert Sieckmann-Joucken einen profilierten Politikwissenschaftler und Berater für Erneuerbare Energien an unserer Seite. So konnten wir an mehreren Schulen in Schleswig-Holstein unser neues „Planspiel Zukunft“ erproben. Schülerinnen und Schüler versetzen sich in die Rolle von fünf unterschiedlichen Interessengruppen, die sich aus unterschiedlichen Beweggründen für oder gegen erneuerbare Energien einsetzen. In der Vorbereitung haben mehrere Schülerinnen und Schüler dann sogar die Zeitzeugen als Experten zu sich gerufen und zusätzlich befragt. Anschließend gab es dann jeweils eine Debatte: Die Schülerinnen und Schüler tauschten dann in ihren Rollen als Windrad-Hersteller oder Stadtrat, als Vertreter einer Ökogruppe oder betroffener Anwohner Argumente pro und contra aus. Bei diesem Planspiel haben wir vorher und nachher Meinungsbilder zu Erneuerbaren Energien eingeholt – und am Ende waren nur zwei Schüler weiterhin gegen Windenergie. An einer Schule wollten die Schülerinnen und Schüler direkt selbst aktiv werden und haben eine Demonstration vorbereitet. Insgesamt haben wir allein in Schleswig-Holstein rund 800 Schülerinnen und Schüler erreicht, darunter diesmal sogar Schülerinnen und Schüler einer Förderschule.

Martin Kastranek von der Heinrich Böll Stiftung Schleswig beim Vortrag in der Geschichtswerkstatt Tschernobyl in Charkiw.

In der Geschichtswerkstatt Tschernobyl in Charkiw rief Martin Kastranek Studierenden und ihren Dozenten die Ereignisse des 26. April 1986 in Erinnerung.

Frage: Konnten die Zeitzeugen in der Ukraine und Belarus den Schülerinnen und Schüler überhaupt etwas Neues erzählen?

Martin Kastranek: Insgesamt wissen die Schülerinnen und Schüler schon Bescheid über die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 und ihre Folgen. Aber die persönlichen Schilderungen schaffen eine besondere Nähe. Zudem haben wir auch Informationen ausgetauscht über die aktuelle Situation in Fukushima. Unsere Zeitzeugin Tatjana Sementschuk konnte sehr viel Empathie wecken für die Situation des umgesiedelten Dorfes Wiltscha, das in der Nähe von Charkiw wiederaufgebaut wurde. Dort gibt es keine gewachsene Infrastruktur und nur das Nötigste. Nur noch etwa 700 Menschen leben dort. Die jungen Leute ziehen weg.

Frage: Was hat sich bewährt? Was ist nicht so gut gelaufen?

Martin Kastranek: Wir haben in den Schulen erstmals Gespräche im Klassenverband ermöglicht. Die Zeitzeugen haben erst in großer Runde berichtet. Aber danach sind die Schülerinnen und Schüler zurück in Kleingruppen, wo sie die Zeitzeugen in einer vertrauteren Umgebung befragen konnten. Das kam bei den Zeitzeugen sehr gut an und auch bei den Schülerinnen und Schülern.

Frage: Welche Anregungen haben Sie als Vertreter des Trägerkreises mitgenommen? Wie geht Ihre Arbeit weiter?

Martin Kastranek: Ich werde im nächsten Jahr nach Tokio reisen und dort Aktivitäten im gleichen Format gemeinsam mit Friends of the Earth anbieten. Bei der Olympiade 2020 soll der Staffellauf in Fukushima starten. Zudem sollen mehrere Wettbewerbe dort ausgetragen werden. Die Regierung möchte zeigen, dass alles wieder in Ordnung ist. Da müssen wir etwas tun. Zudem haben wir auch das ukrainische Dorf Wiltscha besucht und mit dem Bürgermeister verabredet, dass wir in Kontakt bleiben und gemeinsame Aktivitäten entwickeln werden. Und die Schule Nummer 40 in Minsk hat schon angekündigt, dass sie im nächsten Jahr eine Projektwoche zum Thema Nachhaltigkeit plant. Die Ergebnisse wollen die Schülerinnen und Schüler uns dann bei unserem Besuch im nächsten Jahr vortragen. Möglicherweise werden wir dann auch das Planspiel anbieten .

Frage: Wir danken für dieses Gespräch!

Fotos: Martin Kastranek

Das Buch von Oleg Veklenko „Skizzen vom Ort des Geschehens“ finden Sie hier.

Weitere Zeitzeugenberichte finden Sie hier und auf der Website der Geschichtswerkstatt Tschernobyl in Charkiw.

Weitere Informationen über die Europäischen Aktionswochen „Für eine Zukunft nach Tschernobyl und Fukushima“ finden Sie hier.