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Internationales Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund

Europäische Aktionswochen „Für eine Zukunft nach Tschernobyl und Fukushima“: „Wo Gefahr ist, wächst Rettendes auch “

Europäische Aktionswochen „Für eine Zukunft nach Tschernobyl und Fukushima“: „Wo Gefahr ist, wächst Rettendes auch “

„Wo Gefahr ist, wächst Rettendes auch.“ Dieses Hölderlin-Zitat stellte Dr. Astrid Sahm, Geschäftsführerin der IBB gGmbH Dortmund, am Mittwoch, 21. April 2021, ihrer Keynote zum 35. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe voran. Die Heinrich-Böll-Stiftung Schleswig-Holstein hatte zu einer Online-Konferenz im Rahmen der Europäischen Aktionswochen „Für eine Zukunft nach Tschernobyl und Fukushima“ – ursprünglich initiiert durch die IBB gGmbH – eingeladen. Referentinnen und Referenten aus Deutschland, Belarus und der Ukraine diskutierten über drei Stunden lang zum Thema „Ein Blick zurück in die Zukunft – Internationaler Brückenschlag zwischen Gestern und Morgen“.

Aktionswochen werden lokal weitergeführt

Die Reaktorkatastrophe am 26. April 1986 habe in vielfältiger Weise Wirkungen gezeigt, zeigte Astrid Sahm auf: In Reaktion auf die akuten und langfristig nachwirkenden Gefahren für Leib und Leben sei eine einzigartige Solidaritätsbewegung in Europa entstanden, die grenzübergreifend Ferienaufenthalte für Tschernobyl-Kinder organisiert, humanitäre Hilfe geleistet und viele Projekte angestoßen hat. Zum 25. und 30. Jahrestag der Katastrophe sei es zudem gelungen, durch Wanderausstellungen und Zeitzeugen-Gespräche in 14 Ländern die wichtige Rolle der Liquidatoren sichtbar zu machen, die heute als Retter Europas gewürdigt werden. Gleichzeitig sei eine Lehre aus Tschernobyl und später der Reaktorkatastrophe von Fukushima auch die Energiewende. So sei das erste Windrad in Belarus durch eine deutsch-belarussische Initiative errichtet worden. Das Kindererholungszentrum Nadeshda werde heute fast zu 100 Prozent über erneuerbare Energien betrieben. Gleichzeitig wurde im vorigen Jahr aber auch das erste Atomkraftwerk in Belarus in Betrieb genommen.

„Aus dem Beispiel von Tschernobyl kann man auch lernen, dass Geheimhaltung und ein dadurch bedingter Vertrauensverlust politische Krisen auslösen kann“, sagte Astrid Sahm. Tschernobyl habe insofern bis heute vielfältige Lernerfahrungen ermöglicht. Das Veranstaltungsformat der Europäischen Aktionswochen „Für eine Zukunft nach Tschernobyl und Fukushima“ werde die IBB gGmbH Dortmund aber nicht aktiv weiter verfolgen: „Wir werden nicht der Motor sein.“ Es habe sich in den vergangenen Jahren gezeigt, dass durch die gemeinsamen Aktivitäten ein tragfähiges Netzwerk entstanden ist, das die Arbeit selbstständig fortsetzen kann. Die Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung sei ein gutes Beispiel. Die IBB gGmbH will sich auf die praktischen Lehren aus den beiden Supergaus fokussieren und organisiert daher u.a. Weiterbildungsprojekte zur Förderung der Nachhaltigen Entwicklung zum Beispiel zur Kreislaufwirtschaft. „Das IBB hat einen ganz hervorragenden Job gemacht“, lobte Paul Koch, Sozialdiakon im Ruhestand, der an Netzwerktreffen mit bis zu 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus 14 Ländern erinnerte.

Unser Foto zeigt Martin Kastranek, Gabriela Schultze, Gilbert Sieckmann-Joucken, Astrid Sahm und Paul Koch bei der Schlussrunde der virtuellen Konferenz im Rahmen der Europäischen Aktionswochen "Für eine Zukunft nach Tschernobyl und Fukushima".

Martin Kastranek, Gabriela Schultze, Gilbert Sieckmann-Joucken, Astrid Sahm und Paul Koch bei der Schlussrunde der virtuellen Konferenz.

Nach dem Keyword von Astrid Sahm kamen mit Tatjana Semenchuk aus der Ukraine und Vladimir Sednjow aus Minsk zwei ehemalige Liquidatoren zu Wort. Tatjana Semenchuk, damals schwanger, hatte ihre Heimatstadt Pripyat in Sichtweite des Reaktors 1986 überstürzt verlassen müssen und seither nie wieder gesehen. Vladmir Sednjow, war als Ingenieur zum Einsatz am brennenden Reaktor gerufen worden. Beide schilderten auch, dass sie aus ihren Besuchen in Westeuropa im Rahmen der Aktionswochen viele positive Impulse erhalten hatten.

In einem weiteren Panel schilderten die Studentinnen Masha aus Gomel (Belarus) und Rika aus Fukushima (Japan), dass die internationalen Begegnungen im Rahmen der Europäischen Aktionswochen sie sensibilisiert haben für Erneuerbare Energien.

Einschätzungen zur Situation in Fukushima lieferte anschließend der Journalist Shun Kirishima aus Tokio: Die Dreifach-Katastrophe aus Erdbeben, Tsunami und Reaktor-Havarie habe viele Menschen verzweifeln lassen. Bis heute sei die Kernschmelze im Reaktor nicht unter Kontrolle.

Mit Ljubov Negatina, Leiterin der Geschichtswerkstatt Tschernobyl in Charkiw, und Paul Koch, Sozialdiakon im Ruhestand aus der Region Braunschweig, kamen anschließend zwei Vertreter der Solidaritätsbewegung zu Wort. „Es ist für alle Betroffenen sehr bitter, dass die Medien und die Menschen nur zu den Jahrestagen am 26. April und am 14. Dezember, dem Tag der Liquidatoren, an die Ereignisse denken“, sagte Ljubov Negatina. Sie arbeitet an neuen Formaten zur Weiterentwicklung der Erinnerung an Tschernobyl und betreut Projekte zur Inklusion von (Tschernobyl-) Betroffenen mit Behinderungen. Paul Koch, seit 1989 engagiert in der Tschernobyl-Solidaritätsbewegung, richtete einen besorgten Blick in die Zukunft: „Es bleibt weiterhin wichtig, dass wir die Erinnerung wachhalten, sonst überlassen wir das Thema der Atomlobby.“ Heute gewinne die Atomenergie neue Fürsprecher mit Blick auf die CO²-Emissionen.

Karl-Wilhelm Koch, Autor des Buches „Störfall Atomkraft“, beschrieb in seinem Kurzvortrag die zentralen Risiken der Atomkraft. Detlef Matthiessen, europäischer Energiemanager, umriss in seinem Statement, wie die Energiewende hin zu 100 Prozent Erneuerbaren gelingen kann. „Es ist eine große Aufgabe“, ließ er keinen Zweifel. Gleichzeitig entkräftete er alle gängigen Vorbehalte: „Wir haben kein Mengen- und kein Preisproblem.“ Christian Castro von der Business Development Denker und Wulf in Kiel schließlich präsentierte zwei Beispiele für smarte Niedrig-Energie-Lösungen. „Wir beziehen heute immer noch Atomstrom“, sagte Nelly Waldeck, Sprecherin von Fridays for Future, und betonte die Notwendigkeit der Energiewende im Sinne der Generationengerechtigkeit.

Nach einer etwas mehr als dreistündigen Konferenz zogen Gabriela Schultze, Martin Kastranek und Gilbert Sieckmann-Joucken von der Heinrich-Böll-Stiftung Schleswig-Holstein als Gastgeber ein positives Fazit. Die Veranstaltung habe gezeigt, dass es weiterhin großes Interesse gebe an Europäischen Aktionswochen, die eine Brücke schlagen von der Erinnerung an die Ereignisse in Tschernobyl und Fukushima zu den Lehren für die Zukunft.

Weitere Informationen über die Europäischen Aktionswochen „Für eine Zukunft nach Tschernobyl und Fukushima“ finden Sie hier.