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Europakolumne 12: Das Mikro weiterreichen

Europakolumne 12: Das Mikro weiterreichen

Zwölf Monate. Zwölf Kolumnen. 13 Interviewpartner*innen. Mit der Augustausgabe ist auch das Ende des einjährigen Projekts „Europakolumne“ gekommen. Ein Rückblick mit Aussicht.

Sie haben Freunde fernab ihres Geburtstortes, machen regelmäßig Ausgrenzungserfahrungen, führen Familienleben über Ländergrenzen hinweg und haben die verschiedensten Strategien für einen Umgang damit entwickelt. Von vielen Erzählungen meiner Interviewpartner*innen war ich gerührt und beeindruckt, habe gestaunt und gelacht und nach jeder Kolumne noch viel über meine und ihre Geschichten nachgedacht.

Was ich dabei gelernt habe? – In Zeiten, in denen politische Konflikte unüberwindbar und Krisen allgegenwärtig scheinen, können Menschen Geschichten gut gebrauchen, die ihnen Denk- und Fühlweisen eröffnen, die sie sich selbst wohl nie hätten erschließen können. Ich bin sehr dankbar dafür, dass 13 Menschen ihre Sicht auf Europa mit mir und den Leser*innen des Coolibri geteilt haben.

Neue Freunde und Freude am Reisen

Mit John habe ich über die Anfänge der EU, die Öffnung der europäischen Grenzen und die Zerrissenheit der Briten in der Brexitfrage gesprochen. Rita hat mir davon berichtet, wie es ist, in einem so großen Land wie Russland aufzuwachsen, das von Europäern schnell gleichgesetzt wird mit seiner Regierung. Leonora hat sich gefragt, warum bei sportlichen Wettkämpfen ein flexibler Umgang mit Herkunft und Nationalität möglich ist, bei Migration aber nicht.

Ich denke an Markus, den Ausbilder und Gärtner, der aus seiner Komfortzone getreten ist und Freude am Reisen und neue Freunde gefunden hat. Mir fällt Fabio ein, der junge Mann, den seine Erfahrungen so stark beeinflusst haben, dass er bewusst entschieden hat, in Zukunft die politischen Dimensionen der Welt um ihn herum aktiv mitgestalten zu wollen. Ich erinnere mich an Daniele, der Italien und den IT-Bereich verlassen hat, um sich stattdessen der Sozialen Arbeit mit Jugendlichen zu widmen.

Engagement auf vielen Ebenen

Ich erinnere mich an die Bulgarin Teodora, die sich beruflich und privat für kulturellen Austausch einsetzt und berichtet hat, dass sie Vorurteilen vor allem mit Humor begegne. Ich denke an Ahmad aus Syrien, dem aufgefallen ist, dass in Deutschland Leistung und Logik belohnt werden und hierzulande Autos –anders als in den Niederlanden – in der Verkehrshierarchie ganz klar vor Fahrrädern und Öffentlichen Verkehrsmitteln stehen.

Dilan hat von ihren Erfahrungen als kurdische Alevitin in Europa berichtet und ihre Angst im Hinblick auf Erdogans Türkei und einen möglichen EU-Beitritt geschildert. Jannis engagiert sich politisch auf vielen Ebenen und wünscht sich, dass Menschen noch mehr darüber nachdenken, dass es einen Unterschied macht, ob wir in einem Europa der Konzerne oder einem Europa der Bürger leben. Lisa hat erzählt, was sie sich für die Ukraine wünscht und warum ihr mehr Gerechtigkeit für alle Länder Europas so wichtig ist.

Was wir selbst nicht aufbringen können

Mit David habe ich über Österreich, Privilegien und seinen ägyptischen Vater gesprochen. Natalie hat vom Leben „dazwischen“ als „unsichtbare Migrantin“ berichtet und erklärt, was es so schwierig macht, als Kind nicht-deutscher Eltern in Deutschland aufzuwachsen. In Natalies Geschichte scheinen sich viele Menschen wiedergefunden zu haben.

Mir hat das Projekt vor allem gezeigt, dass es eine große Anzahl von Geschichten gibt, die Menschen in Europa noch zu selten anhören oder die nur einigen Wenigen erzählt werden. Die Idee der Initiatoren dieser Kolumne war genau das: Lebensrealitäten sichtbar machen, die ein Großteil der Menschen nur schwer aus eigener Erfahrung kennen und sehr wahrscheinlich nie selbst erleben werden. Das Projekt sollte den Blick auf die Vielfalt der Bürger*innen in Deutschland und Europa richten und zeigen, welcher Gewinn es sein kann, offen auf Menschen zuzugehen.

Die Europakolumne lässt sich vielleicht am leichtesten fortführen, indem man bewusst das Mikro an Menschen weiterreicht, deren Lebenswirklichkeiten selten vorkommen und deren Geschichten daher wenig gehört werden.

Chantal Stauder

alle Fotos: Chantal Stauder