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Europakolumne 7: Voll und ganz dazwischen

Europakolumne 7: Voll und ganz dazwischen

Obwohl ihre Eltern aus Polen kommen, ist Natalie Kajzer als blonde, weiße Frau, die akzentfrei Deutsch spricht, als Migrantin „unsichtbar“.

Natalie ist 25 Jahre alt und lebt in Essen. Sie hat Kunst, Spanisch und katholische Theologie studiert und ist nun leidenschaftlich im Lehramt unterwegs. Natalie hat Glück: Ihre Familie ist sehr gebildet. Ihre Großmutter und Mutter haben studiert. Ihr Großvater war Professor. Er hat in der Türkei als Ingenieur gearbeitet und gepredigt, niemanden aufgrund seiner Religion oder Hautfarbe zu diskriminieren. Natalie sagt: „Ich hatte zwar Probleme mit Ausländerfeindlichkeit, aber nicht mit Rassismus.“

Ihre Eltern wandern aus, weil sie in Polen ein Klima erleben, in dem Menschen aus Angst nicht sagen können, was sie denken. Zur Zeit des Eisernen Vorhangs und unter russischer Oberhand sehen sie für Ihre Kinder keine Aufstiegschancen. Als erstes Kind der Familie wird Natalie in Deutschland geboren. Trotz Uniabschluss haben die Eltern in Deutschland zu kämpfen. Die deutschen Behörden erkennen nicht einmal ihr Abitur an. „Ich habe meine Mutter damals immer gefragt, ob wir nicht zurückgehen können. Auch, wenn ich jetzt froh darüber bin und es verstehe: Als Kind konnte ich nicht nachvollziehen, warum wir gegangen sind“, so Natalie.

Unterwegs am wohlsten gefühlt

Obwohl Natalie in Deutschland sozialisiert wird, wächst sie zwischen zwei Ländern auf: In den Ferien und an langen Wochenenden fährt sie nach Polen. „Andere Kinder hatten Familie immer um sich herum. Ich habe meine Freunde und meine Familie nicht immer gesehen. Deswegen habe ich als Kind oft bitterlich geweint. Am wohlsten habe ich mich als Kind unterwegs, zum Beispiel auf der Autobahn gefühlt.“ Ihre Großeltern weinen bis heute. Natalie erklärt: „Ich hab‘ mir früher immer vorgenommen: Irgendwann komme ich zurück. Aber das geht nicht. Ich habe selbst erlebt, was es für Eltern bedeutet, wenn ihr Kind geht. Schon allein aus Dankbarkeit ginge es nicht: Sie haben es für uns gemacht. Heute kann ich es verstehen, Danke sagen und es auch so meinen. Vielleicht wäre ich heute die, die gegangen wäre und jemanden verletzt und zurücklässt.“

Portrait, foto: Privat

Natalie lässt sich zur Lehrerin ausbilden: Sie unterrichtet heute selbst Deutsch als Fremdsprache. Foto: privat

Natalie bezeichnet Polen als „unsichtbare Migranten“, weil sie in Deutschland so stark assimiliert seien. Viele Polinnen und Polen ihrer Generation haben von ihren Eltern – und die wiederum von der einsprachig ausgerichteten Mehrheitsgesellschaft – gelernt, dass Zweisprachigkeit etwas Schlechtes sei. Als jemand, der eine Familie zuhause hat, die nicht Deutsch spricht, hat Natalie in der Schule eine Außenseiterstellung. Ihre Grundschullehrer wollen sie zunächst nicht aufs Gymnasium lassen, weil ihre Eltern nicht Deutsch sprechen würden. Schließlich schicken ihre Eltern sie auf das beste Gymnasium der Stadt. Das Erlebnis war unter anderem Motivation für Natalie, sich zusätzlich dafür zu qualifizieren, Deutsch als Fremdsprache unterrichten zu dürfen.

Europa ist Plural

Sie erzählt: „Ich weiß, wie stolz ich auf das Wort ‚Kümmel‘ war, weil ich lange nur das polnische Wort dafür kannte.“ Gerade bei Begriffen aus dem häuslichen Kontext war es besonders bemerkenswert, sie zu kennen. Natalie erklärt: „Man fühlt sich ausgeschlossen, wenn man sich nicht ausdrücken kann. Als Kind merkt man, wenn Lehrer denken, dass du was Schlechtes bist. Aber man kommt nicht aus einer schlechten Familie, nur weil die Familie aus einem anderen Land kommt und eine andere Kultur hat. Dennoch hatte ich aufgrund meiner weißen Hautfarbe noch Glück: Ich hatte zwar Probleme mit Ausländerfeindlichkeit, aber nicht mit Rassismus.“

Auch in Polen gilt sie als anders, ist nicht eine von ihnen: „Ich rede anders, kann keinen Slang, nur Hochpolnisch. Du bist nicht wirklich deutsch und andersherum nicht wirklich polnisch.“ Sie resümiert: „Ich bin Deutsch-Polin, aber ich sehe mich als Europäerin.“ Je mehr jedoch die EU-feindliche Stimmung in Polen zunimmt, desto mehr fürchtet Natalie, Polen könnte seine Grenzen schließen oder die EU könnte Polen aus ihrem Bund ausschließen. „Früher gab es in Polen eine Kampagne, dass die EU etwas Buntes ist und Vorteile hat. Es ist schwierig, kulturell bedingt ein Land zu vertreten, das Europa so stark ablehnt. Für Deutschland wie für Polen gilt: Europa ist Plural.“

Chantal Stauder