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Europakolumne 8: Ein Europa der Bürger oder der Konzerne?

Europakolumne 8: Ein Europa der Bürger oder der Konzerne?

Als Mensch mit Asperger-Syndrom macht Jannis Gustke Erfahrungen mit Diskriminierung und Behindertenfeindlichkeit. Nur ein Grund, warum sich der Dortmunder Student gegen Missstände und Ausgrenzung engagiert.

Gut gelaunt, locker und entspannt. So wirkt Jannis Gustke bei unserem Treffen. Er ist 1993 geboren, wohnt in Dortmund und studiert Archäologie und Medienwissenschaften an der Ruhr-Universität. Jannis ist politisch sehr aktiv. Er setzt sich auf kommunaler Ebene ein, beim Stadtjugendring und er leistet als „Botschafter der Erinnerung“ Erinnerungsarbeit. Ostermärsche, Friedensbewegung. Nach wenigen Minuten ist klar: Jannis verbringt vermutlich mehr Zeit mit politischer Arbeit als der Durchschnittsmensch.

Aber nicht nur das. Auch Naturschutz ist ein wichtiges Thema für den Dortmunder. Jannis sagt: „Mir ist es wichtig, die Umwelt zu schützen. Deswegen bin ich unter anderem stellvertretender Bundesvorsitzender der Naturfreundejugend und Leiter des Schiedsgerichtes der International Young Naturefriends. Es handelt es sich um einen Umweltverband, der aus der Arbeiterbewegung hervorgegangen ist.“ Darüber hinaus ist Jannis im Sportverband aktiv – Klettern, Bouldern, Bergsteigen, Kanufahren. Puh. Eine ganze Menge Aktivitäten neben einem Vollzeitstudium.

Jannis erklärt, eine der wichtigsten Aufgaben, vor denen Europa aus seiner Sicht stehe, ist, dass es sich fragen muss, ob es ein „Europa der Konzerne“ oder ein „Europa der Bürger“ sein will. Er sagt: „Das Europa der Konzerne spürt man in Europa selbst nicht so sehr. Man merkt es höchstens bei sowas wie der Bankenkrise, bei der Sicherheitskonferenz in München oder wenn sich die Teilnehmer des Weltwirtschaftsforums in Davos treffen.“

Aber, so Jannis, umso mehr spüre man das „Europa der Konzerne“ auf Kontinenten wie Afrika und in Ländern des globalen Südens: Etwa wenn es um das Thema Rohstoffplünderung geht. Oder auch beim Thema Land Grabbing, also der teilweise illegitimen oder illegalen Aneignung von Land, insbesondere von Acker- und Anbauflächen. So bestimmen europäische Konzerne durch ihre Investments und Abkommen mit bei der Frage danach, was angepflanzt wird. Zum Beispiel Futtermittel für Europas Fleischindustrie. Dazu gehört auch die Frage, wo und wie Schlachtabfälle und Müll entsorgt.

Ich frage Jannis nach anderen Dingen, an denen Europa für ihn spürbar wird. Jannis sagt: „Für mich gibt es drei gemeinsame Grundwerte, die die Ländern Europas verbinden. Als erstes steht für mich das Recht auf Leben, das ich aktuell durch die in Belgien praktizierte aktive Sterbehilfe angegriffen sehe. An zweiter Stelle steht die Meinungsfreiheit. Die Grenze dieser Freiheit verläuft für mich dort, wo Menschen den Holocaust relativieren oder leugnen. Und an dritter Stelle platziere ich das Verbot, Andere aufgrund ihrer Herkunft, sexuellen Orientierung, Hautfarbe und so weiter zu diskriminieren.“

Jannis ist selbst ein Mensch mit Behinderung. Er lebt mit Asperger-Syndrom und macht im Zuge dessen auch Diskriminierungserfahrungen. Ausgrenzungen erlebt er zum Beispiel im Sprachgebrauch, bei Worten wie „Spasti“ oder „Krüppel“. Der Dortmunder sagt: „Es ist ein Problem, solche Wörter als Schimpfworte zu gebrauchen.“

Jannis berichtet von einem rassistischen Vorfall an einer Bushaltestelle in Budapest, bei dem zwei seiner weiblichen Begleiterinnen diskriminiert wurden. Passanten haben die drei gefragt, woher sie kämen und wohin sie wollten. Sie antworteten: Russsland, Deutschland und Indien. Zu dem aus Deutschland kommenden Jannis gewandt, kommentierten die Passanten, mit Untermenschen könne man nicht diskutieren.

Nichts zuletzt erlebt Jannis auch harte Behindertenfeindlichkeit. Er berichtet von Übergriffen nachts durch Neo-Nazis in der S-Bahn S1 nach Dortmund. Weiter ins Detail möchte er zum Vorfall nicht gehen. Jannis bemerkt aber auch, wenn andere von Diskriminierung betroffen sind. Rollstuhlfahrer zum Beispiel. Jannis erklärt: „Es diskriminiert Rollstuhlfahrer auf struktureller Ebene, wenn Kunsthistoriker Gebäude unter höchste Denkmalschutzstufe stellen. Das bedeutet, dass keine Rampen dazu gebaut werden dürfen.“

Chantal Stauder