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Internationales Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund

Europe4refugees: Das Sehnsuchtsland Norwegen als Endstation für Geflüchtete?

Europe4refugees: Das Sehnsuchtsland Norwegen als Endstation für Geflüchtete?

Erstaunlich viele Elektroautos auf der Straße. Ein Hauch von Weltoffenheit in der klaren Luft. Die norwegische Hauptstadt Oslo war vom 28. bis 30. August 2018 das dritte Ziel für eine weitere Lernaktivität im Rahmen des IBB -erasmus+-Projekts „Europe4refugees“. Elf Fachkräfte der Projektgemeinschaft aus Griechenland, Italien, Ungarn und Deutschland waren der Einladung des norwegischen Netzwerk-Partners EUROMASC gefolgt, um im hohen Norden eine Antwort zu finden auf die Frage: Wie gelingt Zuwanderung in Norwegen?

In gemeinsamer Runde fassten die an der Lernaktivität teilnehmenden Fachkräfte aus fünf Ländern ihre Eindrücke und Erkenntnisse zusammen.

In gemeinsamer Runde fassten die an der Lernaktivität teilnehmenden Fachkräfte aus fünf Ländern ihre Eindrücke und Erkenntnisse zusammen.

„Wir haben bisher die beiden stark belasteten Transitländer Italien und Griechenland kennengelernt. Nach Italien kommen Geflüchtete zumeist aus Libyenüber den Seeweg an. Griechenland ist häufig die erste europäische Station für Geflüchtete aus der Zwischenstation Türkei. Norwegen ist aber ein regelrechtes Sehnsuchtsland für Flüchtende“, resümierte Hildegard Azimi-Boedecker vom IBB e.V., die das Langzeitprojekt koordiniert, nach ihrer Rückkehr. „Aus den überlaufenen Häfen in Italien und Griechenland möchte fast jeder Flüchtende so schnell wie möglich weiter in Richtung Nordeuropa. Aber in Norwegen ist Ankommen und Bleiben das große Thema unter den Geflüchteten.“

Norwegen gilt vielen noch immer als letzte Enklave der Liberalität. Das Land ist nicht Mitglied der EU und durch seine Öl- und Gas-Vorkommen ein reiches Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen weltweit. Sogar ungelernte Kräfte können einen guten Stundenlohn verdienen. Zudem werden im kaum sechs Millionen Einwohner zählenden Land der tausend Fjorde in manchen Branchen Fachkräfte immer noch gesucht. Doch auch in Norwegen gibt es wie in vielen anderen europäischen Ländern einen politischen Rechtsruck, vermutlich verstärkt durch Diskussionen um die Zuwanderung von Geflüchteten. Rechtspopulisten, Liberale und Konservative stellen seit Januar 2018 eine Minderheitsregierung. Im neuen Regierungsprogramm wurde denn auch eine Verschärfung des Familiennachzugs festgeschrieben – auf Druck der Rechtspopulisten. Dabei kamen 2017 so wenige Geflüchtete nach Norwegen wie zuletzt 1995.

Mit etwas mehr als 700.000 Einwohnerinnen und Einwohnern, die in einem anderen Land geboren wurden, kommt auch das dünn besiedelte Norwegen auf eine Migrantenquote von 14,2 Prozent – Deutschland auf 14,9 Prozent. Und auch in Oslo gibt es Stadtviertel, wie das multikulturelle Gronland, die bei Zugewanderten besonders beliebt sind. Norwegen setzt bei den Neu-Zugewanderten auf eine schnelle berufliche Integration. Toralv Moe, Diversity-Beauftragter der 1,5 Millionen-Stadt Oslo, stellte ein Weißbuch zur Inklusion von Migrantinnen und Migranten und zum Konzept der „Urban Citizenship“ vor, die neue und integrative Lebensformen fördern will. Die Oslo Metropolitan Universität hat zudem ein Integrationsprogramm für Geflüchtete mit Bleibeperspektive aufgelegt. So werden im Heimatland entsprechend beruflich vorgebildete Geflüchtete in einer einjährigen Qualifizierung zu Erziehungs-, Pflege- oder Lehrkräften fortgebildet. Das vor zwei Jahren aufgelegte Programm schreibe eine Erfolgsgeschichte: Die sorgfältig ausgewählten Geflüchteten meisterten die Qualifizierung mit Bravour, erfuhren die Fachkräfte.

Eine interaktive Installation erinnert im Nobel-Peace Center an Leben und Schaffen von Alfred Nobel und die bisher nominierten Friedensnobelpreisträger.

Eine interaktive Installation erinnert im Nobel-Peace Center an Leben und Schaffen von Alfred Nobel und die bisher nominierten Friedensnobelpreisträger.

Doch es gibt auch Schattenseiten im Job-Wunderland. So wird die Geschichte eines jungen Afghanen erzählt, der seine mehr als 5.000 Kilometer weite Reise nach Norwegen mit dem Fahrrad quer durch Russland angetreten hatte – um am Ziel zu erfahren, dass Afghanen zum größten Teil nicht als Asylberechtigte anerkannt werden

Verschlungene Fluchtwege führen teilweise quer durch Kontinente

„Wir haben in Oslo viel über uns bisher unbekannte Fluchtwege erfahren“, resümiert Hildegard Azimi-Boedecker. So hatte sich ein anderer Flüchtender im Sudan in Nordost-Afrika zu Fuß auf den Weg nach Norwegen gemacht, nicht ohne die tausende Kilometer weite Reise mehrfach mit Kurzstreckenflügen – unter anderem über Istanbul – abzukürzen. Auch Flüchtende aus dem Irak suchen teilweise verschlungene Wege zu ihrer neuen Heimat im hohen Norden: Mit Stopps auf den Flughäfen an türkischen Touristenzielen geht es dann weiter mit dem Boot auf griechische Inseln und in die EU und weiter in Richtung Norden. Flüchtende lassen sich die Dienste der kenntnisreichen Schlepper zuweilen bis zu 11.000 Dollar kosten, um die Strapazen der Flucht z.B. durch Flüge abzumildern.

Eine für Norwegen hohe Zuwanderungsquote entspricht trotzdem einer vergleichsweise kleinen Zahl von Zuwandernden: Selbst im Jahr 2015 – als Tausende u.a. infolge des Syrienkriegs in Richtung Europa aufbrachen – zählte Norwegen „nur“ rund 30.000 Geflüchtete. Im ersten Halbjahr 2018 waren es kaum 3.000 Geflüchtete. Dabei liegt die Anerkennungsquote mit zwei von drei Schutzsuchenden im Vergleich zu EU-Ländern sogar sehr hoch.

Asylsuchende aus Afghanistan und teilweise aus Palästina und dem Irak jedoch haben kaum eine Chance. Werden sie abgelehnt folgt sogar recht schnell die Abschiebung ins Herkunftsland – sogar ins Bürgerkriegs-geplagte Afghanistan, erfuhren die Fachkräfte.

Straffe Organisation soll lange Wartezeiten vermeiden

Toralv Moe, Diversity-Beauftragter der Stadt Oslo, berichtete über die Integrationsprogramme der Stadt Oslo.

Toralv Moe, Diversity-Beauftragter der Stadt Oslo, berichtete über die Integrationsprogramme der Stadt Oslo.

Ketil Blinge vom privaten Dienstleister HERO berichtete: In Norwegen erfolgt die Prüfung in der Regel schnell und zielstrebig. Erstaufnahme, Registrierung und Entscheidung erfolgen in ähnlichen Stufen wie in Deutschland. Möglichst innerhalb von 48 Stunden sollen die Schutzsuchenden einen ersten Check durchlaufen. Hierzu gehören Identitätsfeststellung, Gesundheitsuntersuchung und ein erstes Interview bzw. Gespräch mit der offiziellen norwegischen Flüchtlingsorganisation. Aus den zentralen Erstaufnahmezentren sollen die Geflüchteten nach ca. zwei Wochen bis maximal zwei  Monaten in Transitzentren in verschiedene Gemeinden weitergeleitet werden, wo sie auf die Entscheidung in ihrem individuellen Asylverfahren warten.

Doch trotz straffer Organisation können nicht alle Verfahren schnell zu einem Ende gebracht werden. So erfuhren die Fachkräfte von der ungewöhnlichen Geschichte der Zugewanderten Amouna* aus Gaza: Die heute 70-Jährige Palästinenserin lebt seit zehn Jahren in Norwegen, ist seit acht Jahren verwitwet. Und obwohl ihr Asylantrag zweimal abgelehnt wurde, kann sie nicht abgeschoben werden, lebt ohne Arbeitserlaubnis in der Sammelunterkunft Dikemark bei Oslo, betreut von Freiwilligen. Die dortigen Bewohnerinnen und Bewohner erhalten nur ein Taschengeld und klagen besonders über Monate und Jahre des Nichtstuns und Wartens. Die meisten, so wurde der Gruppe beteuert, würden sehr gerne arbeiten oder in Stadtnähe wohnen. Sie fühlen sich zu Recht sehr isoliert. Mit Sprachunterricht oder Nähkursen wird versucht, diese Eintönigkeit zu durchbrechen. Neu sind Schwimmkurse und die Möglichkeit, sich selbst zum Schwimm-Instruktor ausbilden zu lassen – was gerade in diesem Land ungeheuer wichtig ist, da im wasserreichen Norwegen  immer wieder Geflüchtete ertrinken.

28 Jahre auf der Flucht und ohne Aussicht auf ein Bleiberecht

Ein ähnliches Schicksal hat der staatenlose Ramad* erlitten: Ursprünglich stamme er aus Bangladesch, erzählte er den Fachkräften. Doch nunmehr schon seit 28 Jahren sei er unterwegs: Zunächst hatte er das Ziel Europa – wo sein Asylgesuch jedoch abgelehnt wurde. Dann kehrte zurück nach Pakistan – wo er nicht bleiben konnte. Schließlich machte er sich auf die Reise nach Norwegen, wo er bis heute keine Aussicht auf eine Anerkennung als Schutzsuchender hat. Nach mehreren Unfällen ist Ramad, der kaum Lesen und Schreiben kann, nicht mehr arbeitsfähig, hoffnungslos und verarmt.

Balasubramaniam Venkatasamy, Leiter des Reception Centers im Stadtteil Reftsad, präsentierte das Konzept der Einrichtung.

Balasubramaniam Venkatasamy, Leiter des Reception Centers im Stadtteil Reftsad, präsentierte das Konzept der Einrichtung.

Balasubramaniam Venkatasamy, Leiter des von Hero betriebenen Reception Centers im Osloer Vorort Reftsad stellte ein hochprofessionelles Verfahren vor, das derartige Brüche in den Biografien vermeiden soll. Im Center erhalten Geflüchtete Sprachkurse und gesundheitliche Unterstützung, ein regelrechtes Coaching für den Eintritt in die norwegische Gesellschaft. Auch ein Kindergarten und Unterstützung beim Schulbesuch sollen die Integration vorantreiben. Um gute Nachbarschaft ist man dort auch bemüht, wenngleich es kein so intensiv arbeitendes Patenmodell wie in Deutschland gibt. Allein: Kochen dürfen die Zugewanderten nicht, denn das Essen wird von professionellen Catering-Services angeliefert – zuweilen zum Kummer der Betroffenen, die die vertrauten Gerichte ihrer Heimat vermissen.

Berufliche Kompetenzen erkennen und im RefuPass dokumentieren

Projektmanagerin Ellen Magnus stellte am Dienstag, 28. August 2018, ein Fortbildungsprogramm für Geflüchtete vor.

Projektmanagerin Ellen Magnus stellte am Dienstag, 28. August 2018, ein Fortbildungsprogramm für Geflüchtete vor.

EUROMASC, die Gastgeber-Organisation der dritten Lernaktivität, hat sich auf eine kultursensible Erforschung und Dokumentation der beruflichen und persönlichen Kompetenzen spezialisiert. Nicht jeder Abschluss kann anerkannt werden. In den meisten Fällen fehlen Papiere. Liegen sie vor, sind sie häufig nicht mit norwegischen Qualifikationen vergleichbar. So schaut EUROMASC sowohl auf die beruflichen Kompetenzen als auch auf Zertifikate. Und manchmal sind es auch persönliche Skills, die neue Perspektiven eröffnen. EUROMASC bietet den Neu-Zugewanderten sogar Unterstützung bei Bewerbungsschreiben an, die gleich in mehreren Sprachen angelegt werden können.

Auch die Universität Oslo hat ein Projekt zur Kompetenzerkennung, insbesondere von zugewanderten Akademikerinnen und Akademikern aufgelegt. Der „RefuPass“ ermittelt die beruflichen Fertigkeiten mit Hilfe einer speziell entwickelten Software und kann europaweit verwendet und sogar online eingesehen werden.

So wird die Wartezeit während des Verfahrens genutzt, damit die Neu-Zugewanderten Unterlagen für ihren Berufsstart zur Hand haben, sobald sie ihre Arbeitserlaubnis erhalten. Denn besonders die High Potentials möchten nach ihrer Aufnahme am liebsten schnell wieder an die Arbeit gehen können. „‘Das Schlimmste ist das Warten und die Ungewissheit‘, haben wir immer wieder gehört“, sagt Hildegard Azimi-Boedecker. Es sei wichtig, die beruflichen Kompetenzen und auch die nach der oft strapaziösen Flucht verbliebene Rest-Energie zu erhalten. Das wurde auch im Gespräch mit geflüchteten Akademikerinnen und Akademikern aus Eritrea, dem Iran oder kurdisch-Irak deutlich. Hier diskutierten junge Stadtplaner, Lehrer und eine Wirtschaftswissenschaftlerin auf Augenhöhe mit der Besuchsgruppe – nur der Aufenthaltsstatus machte den Unterschied. EUROMASC bot in diesem Gespräch an, eine Brücke zur Oslo Metropolitan Universität zu bauen. So könnten die Geflüchteten bereits wichtige Informationen zur Weiterführung ihres Studiums in Norwegen erhalten.

Nach drei intensiven Tagen mit vielen Begegnungen hatte die Gruppe auch Gelegenheit, die wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt am Oslo-Fjord zu erkunden. Im Rathaus von Oslo waren die Fachkräfte sogar in jenem Raum zu Gast, in dem jedes Jahr der Nobelpreis vergeben wird.

Über das Projekt Europe4refugees:

Das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk e.V. in Dortmund (IBB e.V.) ist Initiator und Koordinator des 19-monatigen EU- Projektes im Rahmen einer „Strategischen Partnerschaft“. Nach einer ersten „Lernaktivität“, wie die Fachkräftetreffen im erasmus+-Programm genannt werden, im italienischen Cosenza im Herbst 2017 stand im April 2018 ein Treffen in Thessaloniki/Griechenland auf dem Programm. Die nächste Lernaktivität führt im Oktober 2018 nach Budapest in Ungarn.

*Namen der Geflüchteten verändert

Weitere Informationen über das erasmus+-Projekt Europe4refugees finden Sie hier.