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Internationales Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund

Fach- und Vernetzungstag Inklud:Mi 2021 zum Thema “Alt werden in der Fremde“ – Auftakt im Projekt fokus 4

Um Pendel-Migration und „Kofferkinder“, um die besondere Bedeutung einer Tasse Tee und wichtige Rituale auf dem letzten Weg, ging es beim Fach- und Vernetzungstag Inklud:Mi 2021 am Dienstag, 26. Januar 2021. „Alt werden in der Fremde“ hieß das Thema der virtuellen Tagung mit mehr als 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, zu der das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk e.V. in Dortmund zum Auftakt des EU-geförderten Projektes fokus4 eingeladen hatte.

Wenn Zugewanderte in Deutschland alt werden, stehen sie vor besonderen Herausforderungen: Ihre Bedürfnisse – zum Beispiel nach kultursensiblen Beratungsangeboten oder muttersprachlicher Unterstützung der Angehörigen – werden bisher kaum berücksichtigt. Die Folge ist: In den Einrichtungen und Angeboten der Altenhilfe in Deutschland sind Zugewanderte noch immer unterrepräsentiert. „Bis zur vollständigen interkulturellen Öffnung in der Altenhilfe bedarf es noch vieler Fortbildungen und struktureller Änderungen“, stellte Hildegard Azimi-Boedecker, Leiter des Fachbereichs Beruf international und Migration im IBB e.V. nach dem Fach- und Vernetzungstag Inklud:Mi fest.

Mehr als 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Deutschland, Marokko und der Schweiz hatten sich zur Tagung im virtuellen Seminarraum zugeschaltet. Susanne Bartig, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung Berlin, berichtete zu Beginn über die Lebens- und Gesundheitssituation der 21 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland leben. Der Anteil der über 65-Jährigen mit Migrationshintergrund stieg in den vergangenen Jahren stark an auf zuletzt 2,1 Millionen Menschen. Ihr Gesundheitszustand ist schlechter, ihre Lebenserwartung geringer als in der Gesamtbevölkerung. Und Angebote der Altenhilfe wie Schulungen, mobile Pflegedienste oder Seniorenheime nehmen Zugewanderte unterdurchschnittlich häufig wahr. Musa Deli, Leiter des Gesundheitszentrums für Migrant*innen beim Paritätischen Köln, zeichnete in seinem Impulsvortrag ein lebendiges Bild von der Gefühlslage älterer (türkischer) Zugewanderter der ersten Generation, damals „Gastarbeiter“ genannt. Sie hatten in der Regel schwerste Arbeiten verrichtet, selten Angebote zum vorbeugenden Gesundheitsschutz wahrgenommen und ihre Urlaube meist vollständig in der Heimat verbracht. Bis heute seien viele Ruheständler*innen dieser Gruppe Pendel-Migranten, die zwischen der Türkei und Deutschland hin- und herpendeln und sowohl in der alten als auch in der neuen Heimat verwurzelt sind. Die Folgen für ihr eigenes Altern sind Ängste, Unkenntnis des Hilfesystems sowie die Scham, Krankheit und geistigen Verfall offen und außerhalb der Familie zu  zeigen. Aber auch andere, herkunftsbedingte Vorstellungen über den Umgang mit Demenz und Alter belasten die Betroffenen selbst ebenso wie die Angehörigen. Zudem sei der Kontakt zu den eigenen Kindern teilweise geprägt von langen Trennungsphasen: Als „Koffer-Kinder“ verbrachten sie lange Phasen des Jahres bei Verwandten in der Türkei und kamen nur vorübergehend mit dem Koffer zum Vater oder zu den eigenen Eltern.

Semra Altınışık von der Alzheimer Gesellschaft München e.V. berichtete über die Problematik in Deutschland verbreitet genutzter Testverfahren zur Diagnose von Alzheimererkrankungen und Demenz: Sie seien zu häufig sprachbasiert und damit nur bedingt geeignet für alternde  Zugewanderte – zumal längst bekannt ist, dass gerade bei Alzheimer und Demenz die Kenntnisse in einer erworbenen Zweitsprache zuerst verloren gehen. Die Referentin nannte weniger sprachenorientierte Alternativen und stellte das Schulungssystem EduKation vor, das  ressourcenorientiert für „Entlastung durch Förderung der Kommunikation bei Demenz“ steht und sich insbesondere an Zugewanderte und ihre Angehörigen wendet. Ältere Zugewanderte seien allerdings eine weit verzweigte und schwer zu erreichende Zielgruppe, berichtete sie. So habe sie die Erfahrung gemacht, dass eine persönliche Ansprache von betroffenen Älteren oder Angehörigen in informeller Runde bei einer Tasse Tee viel zielführender war als die klassische Öffentlichkeitsarbeit mit schriftlichen Informationsmaterialien.

Über islamische Trauer- und Bestattungsrituale berichteten Rabia Bechari und Ahmed Douirani vom Verein Barmherzige Begleitung e.V. Frankfurt und Offenbach am Nachmittag: Sie arbeiteten heraus, dass das Leben im Islam als Leihgabe und als Geschenk des Schöpfers betrachtet werde, eine Krankheit dagegen oft als Prüfung. Die Beachtung der islamischen Beerdigungs- und Begleitungsrituale seien ein wichtiger Baustein für die Betreuung vieler alter Zugewanderter am Lebensende und ihrer Familien. Viele Rituale seien den christlichen ähnlich, stellten die Tagungsteilnehmenden fest. Dennoch gebe es viele Unsicherheiten, wie zum Beispiel kultursensibel Mitgefühl mit den Trauernden zum Ausdruck gebracht werden könne. Eine herausragende Bedeutung komme dem Beistand für den Sterbenden und die Angehörigen zu, sagte Rabia Bechari. Eine Sterbebegleitung von außerhalb der Familien sei neu und für Viele zunächst daher ungewohnt, andererseits wünschten sich viele Angehörige Unterstützung und es gebe ja auch alleinlebende Menschen mit Migrationsgeschichte, die keine Begleitung durch Angehörige hätten. Vielfach würden noch Überführungen in die Heimatländer organisiert. Denn Bestattungen nach islamischem Brauch – unter Aussetzung der Sargpflicht nur in ein Tuch gewickelt und mit dem Gesicht nach Mekka  – seien bisher nicht flächendeckend auf Friedhöfen in Deutschland möglich, auch gebe es nicht überall zumindest muslimische Grabfelder. Muslimische Bestattungsunternehmen könnten hier helfen und Ansprechpartner sein. Rabia Bechari, die als muslimische Seelsorgerin im Krankenhaus tätig ist, betonte die Wichtigkeit der Betreuung durch entsprechende Dienste sowohl zu Hause als auch in den Kliniken, analog zu den Möglichkeiten im christlichen Glauben.

Michael Härteis von der Stabsstelle Vielfalt stellte am Nachmittag das gelungene Modell der interkulturellen Öffnung in der Seniorenarbeit der Stadt München vor. Dazu wurde nicht nur eine interkulturelle Eingangsschulung für die Mitarbeitenden entwickelt, die oft genug selbst nicht in Deutschland aufgewachsen sind. Die Weiterbildungsinitiative habe sich positiv auf die Fluktuationsquote der Mitarbeitenden ausgewirkt, die nun seltener in andere Einrichtungen wechseln. Hinzu kamen auch bauliche Veränderungen: Teestuben und sakrale Räume für verschiedene Religionsgemeinschaften wurden zum Teil mit Unterstützung der örtlichen Hochschulen und Gemeinden konzipiert. Die Speisepläne wurden überarbeitet, mehrsprachige Schriftzüge im Eingangsbereich signalisieren eine interkulturelle Offenheit. Und die Feiern im Jahreslauf wurden um Feste wie Chanukka, das Zuckerfest  zum Ende des Ramazan und das orthodoxe Osterfest ergänzt. Zudem wird auch versucht, über künstlerische Projekte und Ausstellungen Anlässe zu schaffen, die Bewohnerinnen und Bewohner verschiedener Kulturen miteinander ins Gespräch zu bringen.

Michael Härteis schilderte auch, dass der Prozess der interkulturellen Öffnung bereits 2014 zunächst in Modelleinrichtungen begonnen hatte und erst später auf weitere Häuser übertragen wurde. „Es braucht viel Zeit“, sagte er. Seine Erfahrung gab er den Zuhörenden mit auf den Weg: „Man kann so viel Papier bedrucken, wie man will“, sagte er mit Blick auf sorgfältig ausformulierte Konzepte und Zielvereinbarungen. Die Erfahrung habe vielmehr gezeigt: „Man braucht auch eine Tasse Tee, um Barrieren und Ängste abzubauen“.

„Mit dem Thema Altern in der Migration sind wir auf sehr großes Interesse gestoßen, offenbar benötigen aktuell viele Einrichtungen hier Unterstützung zur Umgestaltung ihrer Angebote “, zog Hildegard Azimi-Boedecker ein positives Resümee. Weitere Tagungen zum Thema werden daher in naher Zukunft folgen.

Der Fach- und Vernetzungstag Inklud:Mi war gleichzeitig Auftakt zur neuen Reihe im Projekt fokus4, in dem das IBB e.V. dank einer EU-Förderung durch den Asyl- und Migrationsfonds AMIF zumeist kostenfreie Fortbildungen anbieten kann. Die Fortbildungen werden jeweils individuell für die anfragende Institution oder Einrichtung konzipiert und durch weitere Fachtagungen ergänzt.

An den Fortbildungen Interessierte können sich jederzeit am besten mit einer E-Mail an das IBB e.V. wenden.

Dieses Projekt wird aus Mitteln des Asl-Migrations- und Integrationbsfonds gefördert.