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Internationales Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund

fokus4: IBB e.V. informiert über Migrationsgründe und Gesellschaftsstrukturen in Nigeria, Syrien und Afghanistan

Welchen Einfluss haben Familienstrukturen, Glaubensfragen und politische Entscheidungen in Nigeria, Syrien und Afghanistan auf das Verhalten von Zugewanderten, die in Europa angekommen sind? Dieser Frage widmete das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk e. V. in Dortmund am Mittwoch, 1. Dezember 2021, eine Tagesveranstaltung im Rahmen des EU-geförderten Projektes fokus4 . Hildegard Azimi-Boedecker, Leiterin des Fachbereichs Beruf international und Migration, und Referentin Gamze Alkan begrüßten 13 Mitarbeitende aus dem Dortmunder Integrationsnetzwerk „Lokal willkommen“, die in den Stadtteilbüros in Eving, Scharnhorst und Mengede in der Arbeit mit Geflüchteten tätig sind.

Zwar sind die gesellschaftlichen Zustände in den drei Ländern auf den ersten Blick grundverschieden, dennoch gibt es Ähnlichkeiten, eine Art roten Faden zu Migration bzw. Fluchtgründen, zu Familienstrukturen und gesellschaftlichen Wertesystemen.

Die Teilnehmenden aus den Stadtteilbüros und kooperierenden Schulen haben im Alltag mit Familien bzw. Kindern und Frauen aus den drei Herkunftsregionen zu tun. Ihnen fehlt aber oft anwendungsorientiertes Hintergrundwissen zu ihren Klient*innen, zumal diese oft die deutsche Sprache noch nicht gut beherrschen oder aus verschiedenen Gründen eher zurückhaltend in der Problembeschreibung sind.

 

Menschenhandel und Ethnisierungspolititk

Im ersten Teil berichteten die Fachreferentinnen daher zunächst über die Heterogenität der zugewanderten Gruppen. Bei den zugereisten Menschen aus Nigeria kann es sein, dass diese auch Opfer von Menschenhandel geworden sind. Eine legale Einreise ist für Nigerianer*innen fast unmöglich, da ihre Schutzquote unter 15 Prozent liegt. Möglich ist zwar die Einreise mit Diplomatenstatus oder Arbeitsvisum und im Rahmen von Familienzusammenführung bzw. Studium. Zumeist erfolgt jedoch die Zuwanderung durch Schlepperorganisationen. Eine Besonderheit: Im westafrikanischen Nigeria ist der Menschenhandel oft weiblich besetzt. Sogenannte „Madames“   vermitteln junge Frauen aus armen Verhältnissen, die zum Familienunterhalt beitragen sollen über Italien nach ganz Westeuropa, so auch ins Ruhrgebiet. Zwar wissen die meisten jungen Frauen inzwischen, dass sie als Prostituierte arbeiten werden. Doch die ganze Dimension dessen, was da auf sie zukommt – Abzahlung der „Reisekosten“ mit bis zu 60 000 Euro, Abnahme der Pässe, Abhängigkeit vom Zuhälter etc. – ist ihnen nicht bekannt. Der Rückweg ist ihnen – ohne Papiere – auch versperrt, denn erschwerend kommt hinzu, dass diese jungen Frauen zumeist Opfer des sogenannten „Juju-Kultes“ werden: Dabei handelt es sich um einen aus der animistischen Religion Nigerias in krimineller Absicht abgewandelten Ritus. Danach müssen die Frauen Stillschweigen schwören und werden mit Amuletten und Ritualen wie zum Beispiel einem Hühnerblutverzehr oder abgelieferten Haarproben, die verschlossen aufbewahrt werden, von sogenannten Priestern noch in Nigeria unter Druck gesetzt. Sollte eine junge Frau ihre Schulden nicht abarbeiten oder aber über die Geschehnisse in Deutschland sprechen, wird sie oder ihre Familie schwer erkranken oder sterben – lautet die Drohung. Die Einschüchterung erfolgt so nachhaltig, dass sich die jungen Frauen meist fügen. Sie werden dann, begleitet von einem „Bruder“, oft über libysche „Connection Houses“ nach Süditalien geschleust, wo eine „Madame“ sie begutachtet und weiter verteilt. Inzwischen hat diese Form des Menschhandels durch Kampagnen gegen den Kult nachgelassen. Mittlerweile treten aber kriminell gewordene junge Männer aus Studentenverbindungen wie die „Black Axe“ oder „Eiye“ in diese Lücke und übernehmen das Geschäft der „New Nigerian Mafia“ mit äußerster Brutalität. Zahlen sind schwer ermittelbar. Als gesichert gilt: 2018 kamen 80 Prozent der nach Italien eingereisten Nigerianerinnen aus diesem System. Da auch Homosexualität in Nigeria unter Strafe verboten ist und insgesamt unterschiedliche Kräfte in Nigeria im Krieg miteinander stehen, verlassen auch junge Männer der unteren Mittelschicht das Land in Richtung Nachbarstaaten oder Europa. Ihre Perspektive ist auf Grund der Korruption, ungleicher Wohlstandsverteilung und der Auseinandersetzung zwischen der islamistischen Boco-Haram und christlichen oder staatlichen Milizen mehr als schlecht. In Europa haben sie hingegen zumeist  nur einen Status als „Geduldete“, bei denen die Abschiebung nur vorübergehend ausgesetzt ist – oder sie haben bereits die Ausreiseaufforderung erhalten und verschwinden in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität.

Foto: Pixabay

 

Flüchtenden droht eine Hungersnot im Winter

Im zweiten Teil des Seminars gaben die Referentinnen ein Update zur Situation in Syrien und Afghanistan. Zwar sind bis auf wenige Regionen in beiden Ländern keine Kampfhandlungen mehr sichtbar. Gleichwohl vergeht kaum ein Tag ohne Anschläge unterschiedlicher extremistischer Gruppierungen oder mit Vergeltungsschlägen ausländischer Verbündeter. In beiden Ländern ist die Infrastruktur stark beschädigt und es droht für die Millionen von Binnenflüchtlingen eine Hungerkatastrophe im nahenden Winter. Während in Syrien drei Viertel des Landers wieder unter  dem Regime Assad stehen, haben bekanntlich in Afghanistan die Taliban das Land in ein islamisches Emirat verwandelt mit Beschneidung fundamentaler Rechte insbesondere für die Frauen. In Afghanistan komm hinzu, dass die längst überwunden geglaubte Ethnisierungspolitik neue Ungerechtigkeiten und Verfolgung mit sich bringt. Insbesondere die jungen Angehörigen der Hazara- Bevölkerungsgruppe, die sich im Medien- und Universitätsbereich zur neuen intellektuellen Elite entwickelt hatte, werden wieder systematisch ausgegrenzt und sind von Anschlägen oder Erschießungen bedroht. Ähnliches geschieht Angehörigen der tadschikischen, also Farsi sprechenden Gruppen aus den westlichen bzw. nord-östlichen Teilen des Landes. Gerüchten zufolge soll auch die dem Farsi fast gleiche Landessprache „Dari“ in „Paschtu“ umgewandelt werden, um der Vormachtstellung der eigentlich eher im Süden angesiedelten Paschtunen Ausdruck zu verleihen. Ein Großteil der Taliban-Regierung und der Vorgängerregierung entstammt dieser Bevölkerungsgruppe.

Aus beiden Ländern – und auch hier eine Parallele zu Nigeria – flüchten die Menschen zumeist nach anfänglicher Binnenmigration in Nachbarländer oder nach Europa. Doch auch ihr Weg nach Europa macht sie noch immer allzu oft zu Opfern von Menschenhandel und Gewalterfahrung, da reguläre Korridore verschlossen bleiben.

Unterstützung für Familien in den Herkunftsländern

Den roten Faden, der die vorgestellten Länder bzw. Regionen verbindet, stellten die Fachexpertinnen im letzten Teil des Seminars vor. Es handelt sich um patriarchal geprägte Länder mit entsprechender Gesellschaftsform, in denen dem familiären Zusammenhalt besondere Bedeutung zukommt. Familiäre Interdependenzen, die Schutz für Schwächere und Jüngere, aber auch Respekt für (zumeist männliche) Stärkere oder Ältere bedeuten, regeln den sozialen Zusammenhalt. Die Rollen sind – nicht nur in traditionell lebenden Familien – zumeist mehr oder weniger stark festgelegt. Eine Abweichung ist schwierig. Daher fühlen sich viele wie die jungen Frauen in Nigeria, aber auch junge Männer aus Syrien oder Afghanistan verpflichtet, zum Wohlergehen der Familie beizutragen. Die politischen und   nachkriegsgeprägten wirtschaftlichen Verhältnisse sind so desolat, dass die traditionellen Familienvorstände (zumeist Männer oder beide Elternteile) dies nicht oder nicht allein schaffen können. Flucht und Migration ins Ausland und die damit verbundene Selbstverpflichtung, auch von dort aus die Familie möglichst zu unterstützen, sind die Folge.

Die im Seminar bearbeiteten Fallbeispiele zeigten auf, welchen neuen Herausforderungen diese Zugewanderten neben dem wirtschaftlichen Überleben haben: Umgang mit Behinderung und Krankheit, durchgehender Schulbesuch und ein kompliziertes soziales System belasten die Familien oder die jungen allein Zugewanderten sehr. Im Idealfall schaffen sie den Gang in die Beratungsstellen oder Elternsprechstunden, um Hilfe zu erhalten, wie die Seminarteilnehmenden bestätigten. Dazu muss das System der Unterstützung jedoch einladend, sprachlich verständlich und kultursensibel ausgerichtet sein. Die Hintergrundinformationen aus dem IBB-Seminar, so der Tenor der Teilnehmenden, waren ein wertvoller Baustein für die kultursensible Arbeit mit diesen Personengruppen.

Das Projekt fokus4 wird noch bis September 2022 vom Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds der EU gefördert.

 

Bericht: Hildegard Azimi-Boedecker

 

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