Nachrichten

Internationales Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund

Für einen schnellen Atomausstieg in ganz Europa

Für einen schnellen Atomausstieg in ganz Europa

Konferenz „Atompolitik in Deutschland und international“ in Berlin diskutiert die Lehren aus Tschernobyl und Fukushima

Hunderttausende Menschen in Fukushima leben in Notunterkünften, Kinder in Fukushima und Belarus leiden an schweren Krankheiten und den Liquidatoren von Tschernobyl in der Ukraine, die dringend auf Medikamente angewiesen sind, werden die Renten zusammengestrichen: Welche dramatischen Folgen eine Reaktorkatastrophe für die Betroffenen hat, machten die Referenten auf der Konferenz „Atompolitik in Deutschland und international“ am Mittwoch, 27. April 2016,  in Berlin deutlich. „Wenn man im politischen Berlin unterwegs ist, hat man allerdings den Eindruck, dass die Lehren dieser Katastrophen noch nicht in allen Köpfen angekommen sind“, sagte Dr. Matthias Miersch, umweltpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion bei der Eröffnung der Konferenz.

Konferenz_Berlin_IMG_6517

Die SPD- Bundestagsfraktion hatte die Konferenz gemeinsam mit dem IBB Dortmund organisiert aus Anlass des 30. Jahrestages der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Rund 100 Vertreter von Hilfsorganisationen und Betroffene diskutierten mit. „Die Hilfe für die Kinder von Tschernobyl ist die größte europäische Solidaritätsbewegung und ein Beitrag zur Völkerverständigung“, sagte Oliver Kaczmarek, Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender der deutsch-belarussischen Parlamentariergruppe. Er dankte allen Beteiligten für ihr Engagement. „Als wir uns vor fünf Jahren getroffen haben, war der Atomausstieg noch nicht beschlossen und die Energiewende noch nicht so weit.“

Konferenz_Berlin_IMG_6475Die rund 100 Zuhörer – unter ihnen Vertreter vieler Hilfsinitiativen – forderten vor allem eines: Den schnellen Ausstieg aus der Atomenergie europaweit. „55 Reaktoren sind in Frankreich am Netz, in Belgien und Frankreich machen Pannenreaktoren Schlagzeilen, in Polen und Großbritannien werden Neubaupläne diskutiert und in Belarus geht 2017 ein neues Atomkraftwerk ans Netz“, sagte Peter Junge-Wentrup, Geschäftsführer des IBB Dortmund. „Wir haben dafür kein Verständnis! Wir brauchen die Energiewende in ganz Europa!“

HeiKonferenz_Berlin_IMG_6631nz Smital, Greenpeace („Wer sich mit Physik beschäftigt, kann nur Atomkraftgegner werden“), übertrug die Erfahrungen aus Fukushima auf Europa: 2011 habe die Verstrahlung um ein Haar Tokio erreicht. Eine Katastrophe in den belgischen Pannenreaktoren Doel oder Tihange könne je nach Wetterlage das Ruhrgebiet, den Großraum Frankfurt oder ein Gebiet bis Amsterdam betreffen. Bisher endet der Einfluss der deutschen Regierung faktisch an der Grenze. Doch am Freitag, 29. April 2016, widmet sich der Deutsche Bundestag dem 30. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl und den Lehren daraus für die Sicherheit von Atomkraftwerken in Europa. Marco Bülow (SPD), Mitglied im Ausschuss für Umwelt, NaturKonferenz_Berlin_IMG_6587schutz, Bau und Reaktorsicherheit, und René Röspel (SPD), berichteten, dass sie in einem gemeinsamen Antrag von CDU und SPD auf mehr Einfluss und Rechtsmittel drängen.

Der Atomenergieexperte Professor Wolfgang Renneberg vom Büro für Atomsicherheit, bis 2009 Mitarbeiter im Umweltministerium, verwies auf die enge Verflechtung von Kraftwerksbetreibern und Atomaufsicht: „Es kann nicht sein, dass die Rolle des Regulators, des Aufpassers mit einer Person besetzt wird, die früher bei den Leuten gearbeitet hat, die sie heute kontrollieren soll.“ Ein schnellerer Atomausstieg sei möglich. „Die Frage ist nur: Ist die Gesellschaft bereit, den Preis zu zahlen?“

Die am Vormittag vorgestellte Idee eines Atomfonds, ausgestattet mit 23,3 Milliarden Euro von den Energiekonzernen, fand auf der Konferenz nur begrenzt Zustimmung. „Betreiber sollten auch nach Zahlung von 23 Milliarden Euro für Entsorgung nicht vollständig aus der Verantwortung entlassen werden,“ sagte Marco Bülow. „Ein öffentlicher Fonds ist ein Fortschritt“, sagte Prof. Renneberg. Summe und Haftungsbegrenzung sah er aber kritisch. Aus anderen Großprojekten wie dem Berliner Flughafen oder dem Rückbau des AKW Lublin wisse man schließlich, dass geschätzte Kosten auch um ein Vielfaches höher ausfallen können. „Die Masse der Kosten wird nach meiner Überzeugung der Steuerzahler tragen müssen.“

ZuKonferenz_Berlin_IMG_6555vor hatte Dr. Astrid Sahm, Vorsitzende des Vereins „Freunde von Nadeshda“, die Arbeit des deutsch- belarussischen Kindererholungszentrums Nadeshda in Belarus vorgestellt. Die Einrichtung, in der schon mehr als 80 000 Kinder aus den verstrahlten Gebieten von Belarus behandelt und betreut werden konnten, diente inzwischen als Vorbild für ein Erholungszentrum in Japan.

Ljubov Negatina, Leiterin der weltweit ersten Geschichtswerkstatt Tschernobyl in Charkiw, berichtete über die Notlage der Liquidatoren in der Ukraine, die vielfach das Geld für Medikamente nicht aufbringen können. Die Geschichtswerkstatt hoffe, ein Pilotprojekt zur Gründung eines gemeinnützigen Unternehmens als Hilfe zur Selbsthilfe realisieren zu können.

Dr. Christoph Otto, Projektleiter bei der österreichischen Umweltorganisation Global 2000, berichtete über seine Arbeit in der Ukraine: „Der Staat hat die Zuwendungen für die Tschernobyl-Betroffenen praktisch auf Null reduziert. Nun gilt dort umso mehr: Wer Geld hat, überlebt, und wer kein Geld hat, nicht.“

Yoko Schlütermann, Vorsitzende der Deutsch-Japanischen Gesellschaft in Dortmund, berichtete über die weiterhin dramatische Lage in Fukushima. Die Zahl der Krebsfälle bei Kindern steige dramatisch an und noch immer fließe radioaktiv verseuchtes Wasser ins Meer. Zwei der 48 Atomkraftwerke in Japan seien wieder ans Netz gegangen. Viele Atomkritiker schauten deshalb mit großer Hoffnung auf Deutschland. Yoko Schlütermann appellierte daher an die Abgeordneten: „Bleiben Sie hartnäckig, damit die Energiewende als gutes Vorbild für die ganze Welt gelingt!“

Die Bundestagsdebatte am Freitag, 29. April 2016, steht zum Nachschauen und Nachhören in der Mediathek zur Verfügung. Zur Aufzeichnung geht es hier.

Die Rede von Oliver Kaczmarek (SPD) steht hier als Video zur Verfügung.

Die Rede von Marco Bülow (SPD) steht hier als Video zur Verfügung.