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Internationales Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund

IBB Dortmund erinnert mit einem Zeitzeugen-Video an den deutschen Überfall auf die Sowjetunion vor 80 Jahren und die Folgen in Belarus


Sie erinnern sich bis heute noch sehr gut an die Ereignisse jener Tage in ihrer Kindheit. Als die Deutschen ihr Heimatdorf überfielen, war Alexandra Borissowa gerade erst fünf Jahre alt. Als Jakob Krawtschinski mit seiner Mutter ins Minsker Ghetto gesperrt wurde, war er erst acht. Ihre Erinnerungen stehen im Mittelpunkt eines Videos, das das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk gGmbH Dortmund zum 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion veröffentlicht.

Die beiden Überlebenden von Krieg und Holocaust berichten, wie sie als Kinder in Belarus von einer Minute zur anderen Opfer des Krieges wurden: Alexandra Borissowa erinnert sich noch deutlich, wie die Bewaffneten das Dorf im Gebiet Witebsk einnahmen, die Häuser in Brand steckten und nach und nach Familienmitglieder, Freunde und Nachbarn ermordeten. Sie selbst wurde nach Auschwitz und Majdanek verschleppt, wo Menschen in weißen Kitteln ihr Spritzen verabreichten. Jakob Krawtschinski beobachtete mit Kinderaugen, wie Juden in Kolonnen durch Minsk getrieben wurden zu den verschiedenen Vernichtungsorten, über die im Ghetto hinter vorgehaltener Hand erzählt wurde. Er sah, wie die Besatzer Granaten in die Keller leerstehender Häuser warfen, „weil sich dort ja noch jemand aufhalten könnte“. Sein kleiner Bruder, im Ghetto geboren, starb während eines der grausamen Pogrome im Ghetto. Er wurde nur ein Jahr alt.

Ihre Berichte stehen stellvertretend für die belarussische Erinnerung an den grausamen Vernichtungskrieg, der mit dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begann. Belarus lag im Epizentrum des von der NS-Führung so genannten Unternehmens Barbarossa. Nach drei Jahren Krieg und Besatzung war das Land nahezu vollständig zerstört. Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl hatte Belarus die höchsten Verluste unter den Unionsrepubliken zu beklagen. Jede Familie trauerte um Angehörige.

„Dass nach allem, was geschehen ist, Deutsche heute von den Menschen in Belarus, in der Ukraine oder Russland – gerade an diesen Orten – gastfreundlich empfangen werden, dass sie willkommen sind, dass man ihnen warmherzig begegnet – das ist nicht weniger als ein Wunder.“
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 18.06.2021

„In Deutschland ist vielen Menschen immer noch nicht bewusst, wie unendlich viel Leid Krieg und Besatzung gerade in Belarus verursacht haben“, sagt Rainer Schlief, Vorsitzender des IBB e.V. in Dortmund. Die Erinnerungen an den grauenvollen Krieg, an die systematische Vernichtung der jüdischen Bevölkerung und an zahllose Kriegsverbrechen gegenüber der Zivilbevölkerung und den Kriegsgefangenen seien in der belarussischen Gesellschaft bis heute gegenwärtig. Die multiperspektivische Sicht auf die Vergangenheit und der internationale Austausch über die Lehren aus der Geschichte sind dem IBB seit seiner Gründung ein zentrales Anliegen.

Der 50. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion war nicht von ungefähr zum symbolträchtigen Datum für die Grundsteinlegung für die Internationale Bildungs- und Begegnungsstätte in Minsk gewählt worden. Über 400 Menschen fuhren damals aus Deutschland mit einem Sonderzug nach Minsk, wie sich der Mitbegründer des IBB e.V. und langjährige Geschäftsführer der IBB gGmbH Peter Junge-Wentrup erinnert. Am 22. Juni 1991, kurz nach der Öffnung des so genannten Eisernen Vorhangs, begann die Arbeit am ersten deutsch-belarussischen Gemeinschaftsunternehmen, das sich am Vorbild der Evangelischen Akademien in Deutschland orientierte und eine neue Phase der Versöhnung und Verständigung markieren sollte. Getragen wird sie vom IBB Dortmund und belarussischen Partnern gemeinsam. „Die IBB „Johannes Rau“ in Minsk ist heute ein Ort der Versöhnung, an dem die schrecklichen Wunden der jüngsten Vergangenheit heilen können“, hatte Matthias Tümpel, früherer Vorsitzender des IBB e.V., aus Anlass des 20-jährigen Bestehens der IBB Minsk gesagt.

In deutsch-belarussischer Kooperation konzipieren die IBB „Johannes Rau“ und das IBB Dortmund heute gemeinsam internationale Projekte zu einer europäischen Erinnerungskultur. Die digitale Plattform www.about-history.info/en erleichtert den Zugang zu Geschichtsinitiativen und innovativen historischen Projekten mit Osteuropa-Bezug. Das digitale Zeitzeugenarchiv der Geschichtswerkstatt „Leonid Lewin“ macht Lebensgeschichten von unterschiedlichen Opfergruppen auf Deutsch und Russisch zugänglich. Hierzu zählen belarussische Ghetto- und KZ-Häftlinge, Partisanen, Kriegsgefangene und Zwangsarbeitende, aber auch aus Deutschland, Österreich und Tschechien nach Minsk und Malyj Trostenez deportierte Juden. Zahlreiche Einzelschicksale sind zudem in den didaktischen Handreichungen der Geschichtswerkstatt für die pädagogische Arbeit aufgearbeitet. Konferenzen und Seminare bringen Geschichtsinteressierte, Historikerinnen und Historikern aus der Ukraine, Polen, Russland, Belarus und Deutschland zusammen. Denn: „Die Sicht der anderen auf die Geschichte zu kennen, wird zunehmend wichtig in Zeiten, da die Spannungen zwischen Ost und West wieder zunehmen und Geschichte für unterschiedliche Zwecke instrumentalisiert wird“, umreißt Dr. Astrid Sahm, Geschäftsführerin der IBB gGmbH den aktuellen Ansatz der IBB-Arbeit.

Ursprünglich war zum 80. Jahrestag eine internationale, digitale Diskussionsveranstaltung geplant, die kurzfristig abgesagt werden musste. Weiter in Planung ist jedoch die Veranstaltung zum 80. Jahrestag der Errichtung des Minsker Ghettos am 20. Juli. Zudem laufen die Vorarbeiten für die neue Dauerausstellung der Geschichtswerkstatt „Leonid Lewin“ Minsk, in deren Kontext auch das Video mit den beiden Zeitzeugen entstanden ist. Das Schicksal eines weiteren Zeitzeugen der Geschichtswerkstatt, des inzwischen verstorbenen ehemaligen Kriegsgefangenen Boris Popow, stand im Mittelpunkt der Rede, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Freitag im Museum Karlshorst hielt . Gemeinsam mit Alexandra Borissowa, Jakob Krawtschinski und vier weiteren Zeitzeugen war Popow im März 2020 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden.

Steinmeier war 2018 auch als erster Bundespräsident nach Belarus gereist, um an der Eröffnung der Gedenkanlage im Wald von Blagowschtschina am ehemaligen Vernichtungsort Malyj Trostenez teilzunehmen, für deren Errichtung sich das IBB Dortmund mit Partnern aus Belarus und Deutschland jahrelang engagiert hatte. Die Mitarbeitenden der IBB „Johannes Rau“ in Minsk und der Repräsentanz des IBB Dortmund in Minsk werden daher am 22. Juni auch den heutigen Erinnerungsort Trostenez besuchen und außerdem Blumen am Denkmal für die bei der Einnahme von Minsk durch die Wehrmacht gefallenen Rotarmisten, das in der Nähe des Bildungszentrums liegt, Blumen niederlegen.

Auch wenn die Erinnerung an die Ereignisse vor 80 Jahren so schmerzvoll ist, wie das zum Jahrestag veröffentlichte Video vor Augen führt: Das Ziel bleibt ein Lernen aus der Geschichte für eine gemeinsame Zukunft in Europa.

Den Zeitzeugenbericht finden Sie im Youtube-Kanal des IBB Dortmund und in russischer Sprache im Youtube-Kanal der Geschichtswerkstatt „Leonid Lewin“ Minsk.

Weitere Informationen über die Arbeit der IBB „Johannes Rau“ Minsk finden Sie hier. 

Weitere Informationen über die Initiative für den Erinnerungsort Trostenez finden Sie hier.