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Internationales Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund

IBB gGmbH Dortmund berichtet bei zwei Veranstaltungen auf dem 37. Evangelischen Kirchentag über Tschernobyl und die Versöhnung mit Belarus

IBB gGmbH Dortmund berichtet bei zwei Veranstaltungen auf dem 37. Evangelischen Kirchentag über Tschernobyl und die Versöhnung mit Belarus

Auf zwei Diskussionsveranstaltungen auf dem 37. Deutschen Evangelischen Kirchentag berichteten Dr. Astrid Sahm, Geschäftsführerin der IBB gGmbH Dortmund, und Dr. Alexander Dalhouski, stellvertretender Leiter der Geschichtswerkstatt „Leonid Lewin“ Minsk, mit weiteren Gesprächspartnern am Samstag, 22. Juni 2019, über das „Leben mit der Tschernobyl-Katastrophe“ sowie über das Erinnern und  Versöhnen im Dialog mit Belarus. Gastgeber war die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannovers, die zu den Gesprächsrunden im Kontext der Wanderausstellung „Polessje-Elegie – Das verlorene Land“ eingeladen hatte. Die Ausstellung mit 34 Ölgemälden des Künstlers Hermann Buß aus Leer (Deutschland) zeigt die aktuelle Situation in der Tschernobyl-Sperrzone im LWL-Industriemuseum Zeche Zollern in Dortmund und möchte neugierig machen auf Begegnungen mit einem „vergessenen europäischen Nachbarn“.

Nach offizieller Lesart befindet sich die durch den radioaktiven Fallout am stärksten betroffene Region im Süden von Belarus heute in einer Phase der „Rehabilitation“, erfuhren die rund 80 Zuhörenden in der Veranstaltung am Vormittag. Die 30-Kilometer-Sperrzone gilt weiterhin als unbewohnbar, der Zutritt ist verboten. Nur wenige alte Menschen haben sich ihrer Umsiedlung erfolgreich widersetzt, leben heute als Selbstversorger mit minimaler Unterstützung in der verlassenen Region.

Der Künstler Hermann Buß konnte unplanmäßig nicht persönlich an den Gesprächsrunden teilnehmen. Einige seiner Reiseeindrücke und Gedanken wurden verlesen.

„Und dann beginnt die Sperrzone“, schildert  Hermann Buß, der 2016 zum ersten Mal in die Sperrzone gereist war. Der Künstler selbst konnte an den Gesprächsrunden aus privaten Gründen nicht teilnehmen. Seine Worte aus dem Ausstellungskatalog wurden stattdessen verlesen: „Die gleichen Dörfer – nur 30 Jahre menschenlos Die Häuser befinden sich in allen erdenklichen Verfallsstadien: zusammengebrochen, verwittert, bis mühsam in Schuss gehalten. Gern mit mutiger Farbpalette aufgehübscht: Grelles Coelinblau, kräftiges Grün oder Gelb – fast alles scheint möglich.“

Dr. Astrid Sahm, Geschäftsführerin der IBB gGmbH, berichtete den internationalen Erfahrungsaustausch, der sich aus der Tschernobyl-Hilfe entwickelt hat.

Das Unglück, das sich 1986 im politischen Umfeld des so genannten Kalten Krieges zu Zeiten der beginnenden Perestroika in der damaligen Sowjetunion ereignet hatte, wurde nicht offen diskutiert. Sogar bis heute herrsche ein Schweigen über die Ereignisse und die Folgen. Selbst in der am stärksten betroffenen Stadt Prypjat in der Ukraine – unweit der belarussischen Grenze – hieß es damals  gegenüber Betroffenen, sie würden für etwa drei Tage evakuiert. Parallel wurden Bewohner der betroffenen ländlichen belarussischen Regionen in die Hauptstadt Minsk umgesiedelt.

Besonders die Kinder wurden kritisch beäugt, ausgegrenzt, als „Leuchtkäfer“ stigmatisiert. Mit kurzen Textpassagen unter anderem aus dem Buch „Tschernobyl – Eine Chronik der Zukunft“ von Swetlana Alexijewitsch schilderten Rainer Tyra, Direktor des Hauses kirchlicher Dienste Hannover, und Lars-Torsten Nolte, Referent für Kinderhilfe Tschernobyl in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche, die Gefühle und die Not der Betroffenen. Der havarierte Reaktor habe himbeerrot aus sich selbst heraus geleuchtet. In Prypjat habe man die Kinder hochgehalten, damit sie den seltsamen Schein sehen können. „Wir wussten nicht, dass der Tod so schön sein konnte“, zitierte Ralf Tyra die Erinnerung einer Augenzeugin. Die Menschen in Belarus, die in der ländlichen Wald- und Sumpfregion im Süden des Landes im engen Einklang mit der Natur gelebt hatten, die Beeren und Pilze der Wälder schätzten und selbstgemachten Birken- und Ahornsaft tranken, zogen aus ihren Beobachtungen Schlüsse: Maulwürfe kamen an die Erdoberfläche und erstickten. Regenwürmer und Maikäfer waren nicht zu sehen. Nachbarn erkrankten schwer und starben jung.

Die gesundheitlichen Auswirkungen der Verstrahlung seien bis heute noch nicht zu Ende erforscht, schilderte Darya Balotnikava, Direktorin des humanitären Fonds „Gesundheit“ aus Gomel (Belarus). Es gebe in den südlichen Regionen tendenziell mehr Fälle von Schilddrüsenerkrankungen und weitere gesundheitliche Belastungen. Amtliche Erhebungen oder Statistiken gebe es aber nicht.

Rund 80 Zuhörerinnen und Zuhörer verfolgten die Gesprächsrunde am Samstagmorgen im Magazin des LWL-Industriemuseums Zeche Zollern in Dortmund.

Hilfe brachten hunderte Tschernobyl-Initiativen aus Deutschland und weiteren westeuropäischen Ländern, die sich Anfang der 1990er Jahre gegründet hatten und in erster Linie und teilweise noch bis heute Erholungsmaßnahmen für Kinder organisierten. Zudem habe die  internationale humanitäre Hilfe auch eine Zusammenarbeit mit renommierten Wissenschaftlern aus dem Ausland angebahnt, die heute die gesundheitlichen Folgen der Verstrahlung erforschen. Insgesamt aber herrsche ein Klima des Schweigens. Aktuell sorge die viel diskutierte US-Serie Chernobyl für Gesprächsstoff. Ob sie für die Entwicklung einer Erinnerungskultur zum Kapitel Tschernobyl eine Wirkung haben werde, wie die US-Serie Holocaust in den 1970er Jahre,n müsse die Zeit zeigen.

Die internationale Hilfe, die Belarus nicht nur aus Westeuropa, sondern sogar auch aus Japan erfahren hatte, war jedenfalls keine Einbahnstraße, betonte Dr. Astrid Sahm. Nachdem 2011 das Kernkraftwerk in Fukushima infolge des schweren Tsunamis außer Kontrolle geraten war, fragten Japaner in Belarus und in der Ukraine nach Erfahrungen und traten in einen fruchtbaren Dialog.

Zudem seien aus der humanitären Hilfe der Tschernobyl-Initiativen verschiedene Projekte in internationaler Zusammenarbeit entstanden. „Heute arbeiten wir gemeinsam an Problemen, die die Menschen in Deutschland und Belarus gleichermaßen betreffen wie zum Beispiel an Folgen des demografischen Wandels für die ländlichen Regionen“, sagte Astrid Sahm und zitierte den deutschen Dichter Friedrich Hölderlin: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“

Dr. Alexander Dalhouski  stellte den neuen Gedenkort im Wald von Blagowschtschina vor.

Bei der zweiten Diskussionsveranstaltung am Nachmittag rückte die Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit in den Mittelpunkt, denn vor der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl hatte die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg unermessliches Leid über das heutige EU-Nachbarland gebracht. Während der nationalsozialistischen Besatzung verfolgten die Deutschen erbarmungslos „slawische Untermenschen“  und Juden. Jeder vierte Einwohner von Belarus verlor sein Leben. Fast ausnahmslos jede Familie beklagte Opfer. In der belarussischen Erinnerungskultur stand dennoch über viele Jahre die Heldenverehrung im Vordergrund. Der „Große Vaterländische Krieg“ war schließlich aus belarussischer Perspektive am Ende gewonnen.

Unter der Moderation von Rainer Tyra (l.), Direktor des Hauses kirchlicher Dienste der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers, berichtete Dr. Alexander Dalhouski über den Wandel in der Erinnerungskultur in Belarus.

Obelisken und Gedenksteine erinnerten zwar an einige der Mordstätten – klammerten aber die systematische Judenvernichtung aus. Die Perspektive der Opfer brachte erst der belarussische Architekt und Vorsitzende des Verbands der jüdischen Gemeinden Leonid Lewin mit der besonderen Bildsprache der von ihm entworfenen Gedenkorte ein. Alexander Dalhouski und Astrid Sahm erzählten von der internationalen Zusammenarbeit für einen würdigen Gedenkort in Trostenez und über die Wanderausstellung „Vernichtungsort Malyj Trostenez. Geschichte und Erinnerung“, die aktuell in Österreich gezeigt wird.

Gerade vor dem Hintergrund der Kriegserfahrungen und der langen Trennung durch den „Eisernen Vorhang“ habe die Tschernobyl-Hilfe einen besonderen Beitrag zur Versöhnung geleistet, sagte Rainer Tyra. „Man muss sich das vorstellen, dass die Menschen aus Belarus ihre Kinder zu den Deutschen gegeben haben“, erinnerte er auch an die Losung des Kirchentages „Was für ein Vertrauen“ (2. Könige 18,19). Darya Balotnikava, selbst ein Tschernobyl-Kind, schilderte, dass beide Seiten zu Beginn, Anfang der 1990er Jahre, wenig voneinander wussten. Feindbilder herrschten auf beiden Seiten. Persönliche Kontakte gab es praktisch nicht. Beim allerersten Flug einer Gruppe von erholungssuchenden Kindern sei es sogar zu einem folgenschweren Missverständnis gekommen, erinnerte Ralf Tyra. Das Flugzeug landete planmäßig auf einem Militärflughafen in der Nähe von Hannover. Die begleitende Dolmetscherin schritt energisch ein und wollte die Kinder zuerst nicht aussteigen lassen – aus Angst, den Kindern könne etwas passieren.

Im kommenden Jahr wird der 30. Jahrestag der Erholungsmaßnahmen in Hannover gewürdigt. „Wir schauen dann zurück auf 30 Jahre persönliche Begegnungen und wir haben damit Begegnungen ermöglicht, die uns ein reales Bild vom Leben der anderen vermittelt haben. Das ist nicht zu unterschätzen“, sagte Darya Balotnikava. Der von ihr geleitete humanitäre Fonds „Gesundheit“ ist seit vielen Jahren Partner der Arbeitsgemeinschaft „Hilfe für Tschernobyl-Kinder“ in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers. In partnerschaftlicher Zusammenarbeit wurden unter anderem Krankenhäuser unterstützt und Hospitationen von belarussischen Ärzten in Deutschland ermöglicht. Die Kinder waren positive Botschafter in Deutschland. Das Engagement der Tschernobyl-Initiativen zeigte die Deutschen als unterstützende Helfer.

Darya Balotnikava, Direktorin des humanitären Fonds „Gesundheit“ in Gomel, berichtete von ihrer Arbeit und verlas Gedanken des Malers Hermann Buß.

Heute gebe es eher ein Gespür für Gemeinsamkeiten, wie Hermann Buß sie auf seiner Reise entdeckte: „Mir war es anfangs rätselhaft, warum mich dieses Land emotional so sehr berührte“, las Darya Balotnikava aus seinen Aufzeichnungen. „Spätestens der Besuch in einem dörflichen Heimatmuseum am Rande des Sperrgebiets brachte Klarheit: Vieles, was ich dort sah, frühere Behausungen,  Arbeitsgeräte, Werkzeuge, all das erinnerte mich sehr an die Geschichte meiner Heimat.“

Die Ausstellung „Polessje-Elegie – Das verlorene Land“ ist in der Schachthalle des LWL-Industriemuseums Zeche Zollern in Dortmund zu sehn.

 

Die Wanderausstellung „Polessje-Elegie – Das verlorene Land“ ist noch bis zum 21. Juli 2019 im  LWL-Industriemuseum Zeche Zollern in Dortmund zu sehen.