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Internationales Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund

Kommunikationstraining im IBB-Projekt „netcoops“ mit Fahim Sobat schafft Aha-Momente über Umgang mit Gesprächssituationen im Kulturvergleich

Die meisten Deutschen reden in offiziellen Gesprächen eher leise. Nur wenige Gesten untermalen dann ihre Worte. Die Emotionen sind unter Kontrolle. Der Tonfall eher monoton. In Nigeria würde diese leise Sprechweise höchstwahrscheinlich anders gedeutet: Leise wird vielerorts nur Unheimliches verhandelt, Lügen vermutlich, Flüche vielleicht. Wer leise spricht, führt oft nichts Gutes im Schilde. Die in Deutschlands Amtsstuben übliche Ausdrucksweise kann mithin von einem Zuhörenden aus Nigeria ziemlich irritiert aufgenommen werden – erst recht, wenn er oder sie die Sprache noch gar nicht versteht. Doch was für Nigeria gilt, kann deshalb noch längst nicht für alle afrikanischen Länder verallgemeinert werden. Mit eindrucksvollen Beispielen zeigte Referent Fahim Sobat seinen Zuhörenden im EU-geförderten IBB-Projekt netcoops im Winterspecial 2021, wo die höchsten Klippen stehen in der interkulturellen Kommunikation und auch wie sie elegant umschifft werden können. Eine besondere Rolle nehmen danach kultursensibel gestaltete Gespräche bei psychischer oder somatischer Erkrankung im Migrationsprozess ein.

Seine Zuhörerinnen und Zuhörer sind an unterschiedlichen Stellen und in unterschiedlichen Bundesländern dienstlich mit Asylverfahren befasst: In Jugendämtern, Ausländerbehörden, Ordnungsämtern oder in Polizei und Justiz. Manche begegnen neu Zugewanderten kurz nach ihrer Ankunft, manche bei der Arbeits- und Wohnungssuche, manche erst kurz vor der Abschiebung oder freiwilligen Ausreise. Die Klippen in der Kommunikation kennen sie alle mehr oder weniger – und ärgern sich immer mal wieder über scheinbar respektlose Unpünktlichkeit, ausweichende Antworten oder nicht erfüllte Arbeitsaufträge. Die in Deutschland wichtige Tugend der präzisen Pünktlichkeit gelte aber zum Beispiel im arabischen Raum  nicht unbedingt. Pünktlich ist dort, wer ein paar Minuten später eintrifft. Wer in Deutschland exakte Pünktlichkeit erwartet, sollte die Erwartung klar aussprechen. Apropos Respekt: Dass Mitarbeitende staatlicher oder städtischer Behörden heute vielfach Jeans und Sneaker tragen, werde von Neu- Zugewanderten manchmal als Zeichen von mangelnder Entscheidungskompetenz missverstanden. Zu Irritationen führen manchmal auch schlechte Erfahrungen in den Heimatländern. „Einige politisch Verfolgte haben in ihrem Heimatland sehr berechtigte Ängste vor einer Verfolgung durch Geheimdienste und staatliche Stellen entwickelt“, berichtete Sobat. Ausweichende Antworten auf dem Amt erscheinen vor diesem Hintergrund plötzlich in einem anderen Licht.

„Fähigkeit zur Kommunikation ist wie eine mentale Software“

„Unsere Fähigkeit zur Kommunikation ist wie eine mentale Software, die durch unser Denken, Fühlen und Handeln geprägt ist“, sagte der interkulturelle Trainer aus Rosenheim. Ganz augenfällig sei dies am Beispiel des Kopfschüttelns, das in Indien „Ja“ bedeutet – was wiederum zu Missverständnissen führen kann, wenn das Gegenüber die Geste als das genaue Gegenteil versteht. Damit interkulturelle Kommunikation gelingt, sei ein Entgegenkommen von beiden Seiten nötig, warb Sobat. Wichtig sei auch ein Verständnis für die Situation, in der sich die am Gespräch Teilnehmenden befinden.

Anhand des „Kulturschock“-Modells verdeutlichte Sobat die typischen Phasen der Migration: Nach der „Flitterwochen-Phase“ großer Euphorie, die Migration endlich geschafft zu haben folgt im Zielland zumeist die Desillusionierung, das Zurückfallen in die Realität, nicht selten in eine Krise. Verständigungsprobleme, Schwierigkeiten bei der Anerkennung von Berufsabschlüssen und diverse bürokratische Hemmnisse bei der Suche nach einer Arbeit und Wohnung führen zu einer Entmutigung, die in eine vorübergehende Lethargie oder sogar in eine Depression münden kann. Erst in der nachfolgenden Erholungsphase erfolge ein Lernen am Unterschied und eine formale Anpassung an die Zielgesellschaft.„Der Begriff Integration ist aus meiner Sicht zu schwammig“, berichtete Sobat aus seiner Erfahrung. Ziel sei für die meisten Zuwandernden eine Anpassung an die Zielgesellschaft bei gleichzeitiger Erhaltung der kulturellen Identität. „Eine vollständige Assimilation funktioniert meistens nicht.“

Migrationsverlauf hat Folgen für die Gesundheit

Was nicht unterschätzt werden dürfe: Der Migrationsverlauf habe auch Folgen für die Gesundheit der Zuwandernden, schilderte Sobat. Angefangen von Schlafstörungen und anhaltender Müdigkeit über Konzentrationsprobleme und Essstörungen bis hin zu Magenschmerzen und Herzproblemen wird eine lange Liste psychosomatischer Symptome beobachtet. Der Verlust der gewohnten Umgebung, des beruflichen Status und manchmal auch sogar der Tod von Familienangehörigen kann zudem einen Leidensdruck verursachen, der behandelt werden müsste – wenn er denn erkannt würde. Denn die Flucht in Spiel-, Drogen-, Alkohol oder Tablettensucht bis hin zu einer erhöhten Selbstmordneigung kann die Folge sein. Die persönlichen Nöte werden in kollektivistisch geprägten Kulturen jedoch so gut wie niemals offen angesprochen, sondern eher  in der engsten Familie abgehandelt. Fahim Sobat berichtete beispielhaft von einem Gespräch mit einem Unternehmer, der sich wunderte, dass ein zugewanderter Mitarbeiter sich mit Kopfschmerzen krank meldete. Bei Kopfschmerzen greife man doch üblicherweise einfach zu einer Tablette – und komme dann zur Arbeit. „Kopfschmerzen oder mehr noch die Äußerung, dass „der Kopf platzt“, sind bei Zugewanderten sehr häufig die Chiffre für eine massive psychische Überlastung“, verdeutlichte Sobat.

In einer Workshop-Phase erarbeiteten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der sechsten netcoops-Fortbildung „Do’s“ und „Don’ts“ für die verschiedenen Phasen und brachten Erfahrungen aus ihren jeweiligen Arbeitsgebieten ein. Die Euphorie-Phase nutzen, um wichtige Hürden zu nehmen, in der Krise Wege aufzeigen, wie es positiv weitergehen kann und am besten ein abweisendes: „Dafür bin ich nicht zuständig!“ vermeiden, lautete die Essenz und Empfehlung für die im Asylverfahren Tätigen.

Über ein Kopfschütteln, das „Ja!“ bedeutet, und ein „Nein“, das man schon aus zehn Metern Entfernung sieht

Die Augen öffnete Fahim Sobat seinen Zuhörerinnen und Zuhörer mit einem weiteren kurzen Input-Vortrag über unterschiedliche Kommunikationsstile. Die direkte Art, wie man in Deutschland Konflikte geradeaus und konfrontativ angeht, sei für neu Zuwandernde aus eher kollektivistisch geprägten Kulturen irritierend: In vielen Kulturen gelte das offene Aussprechen der leisesten Anzeichen von Kritik als eklatanter Mangel an guter Erziehung. Die Äußerung „Der kann die Luft nicht lesen“ fasst ein vernichtendes Urteil in Worte: Das Gegenüber ist offensichtlich nicht in der Lage, die Botschaft „zwischen den Zeilen“ zu verstehen. Kritik oder mit Tabus Behaftetes wird daher rücksichtsvoll verschlüsselt oder umschrieben. Es gilt, das Gesicht zu wahren. Neu Zugewanderte dagegen „lesen“ auch die Körpersprache. Wenn sie sagen: „Ich konnte ihm das ‚Nein‘ schon aus zehn Metern Entfernung ansehen“, trifft das den Nagel dann meist auf den Kopf.

Der kollektivistische Kommunikationsstil zum Beispiel arabischer oder asiatischer Communities betone stärker die Beziehungs- und Familienorientierung. Konflikte oder Kritik, aber auch das Ansprechen von Leiden oder erst recht psychischen Krankheiten, seien schambesetzt.

Schlafstörungen und Phantomschmerzen bzw. undefinierbare Schmerzen seien bei vielen Geflüchteten eine verbreitete Reaktion auf die ungewohnte Umgebung und den Statusverlust. Für viele Leiden gibt es Bezeichnungen, die wiederum hierzulande kaum verstanden werden. „Mir tut alles weh“ oder „Mein Kopf ist kaputt“ seien Ausdruck einer Überforderung. Mit der „dünnen Krankheit“ sei manchmal Tuberkulose gemeint. „Viele Leiden werden von Mediziner*innen daher nicht erkannt oder falsch interpretiert, oft greifen Betroffene dann zu einer Selbstmedikation“, sagte Hildegard Azimi-Boedecker, Leiterin des Fachbereichs Beruf international und Migration im IBB e.V.. Dies könne schlimmstenfalls sogar zu einer Medikamentensucht führen. Fahim Sobat warb daher für mehr Sensibilität gegenüber dem eigenen und fremden Kommunikationsstil. „Jeder Mensch möchte in einer individuellen Situation gesehen werden.“

Das neu erworbene Wissen testeten Fahim Sobat und ein Teilnehmer in einem Rollenspiel: Das fiktive Gespräch im Jobcenter mündete nach üblicher Vorgehensweise schnell in Verärgerung. Die Anwendung des neu erlernten Wissens dagegen ebnete aber den Weg zu einer kooperativen und lösungsorientierten Gesprächssituation.

Am Ende zogen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine überaus positive Bilanz: „Mir ist deutlich geworden, dass wir die eigenen und fremden Deutungsmuster hinterfragen müssen“, sagte eine Teilnehmerin. In einer Zeit, da immer mehr Abläufe standardisiert werden, müsse doch noch Zeit freigehalten werden für eine echte Kommunikation. „Mir ist heute auch klar geworden, dass ich mich nicht auf Gespräche mit Zuwandernden aus mehr als 160 Ländern jedes Mal individuell einstellen kann. Aber ich kann mich auf einen vermuteten kollektivistischen Kommunikationsstil meines Gegenübers einstellen und im Zweifelsfall auch einfach einmal empathisch nachfragen.“

Die Reihe „netcoops: Europäische Fortbildung Asyl“ wird durch den Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds der EU gefördert. Weitere Fortbildungen folgen noch bis Mitte Februar. Außerdem sind für 2022 mehrere europäische Kooperationstreffen und eine Fachtagung geplant.

Weitere Informationen über das Projekt netcoops: Europäische Fortbildung Asyl – finden Sie hier.

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