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Internationales Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund

Studienfahrt nach Danzig/Gdansk vermittelt Anstöße, die eigenen, inneren Grenzen zu überwinden

Studienfahrt nach Danzig/Gdansk vermittelt Anstöße, die eigenen, inneren Grenzen zu überwinden

Wer sich auf das Fremde einlässt, läuft Gefahr, etwas über sich selbst zu lernen. Rund 20 Akteure der Erinnerungskultur aus der Ukraine, Russland, Belarus und Deutschland nahmen vom 25. bis 30. Juni 2019 an einer Bildungsreise des IBB nach Danzig/Gdansk teil. Die Studienfahrt vermittelte tiefe Einblicke in die Erinnerungskulturen der Nachbarländer sowie eine unerwartete Konfrontation mit der eigenen Sicht auf historische Ereignisse.

Im Fokus der internationalen Reise standen die multiperspektivische Geschichtsvermittlung und die Beschäftigung mit konkurrierenden Geschichtsnarrativen in den vier Herkunftsländern der Teilnehmenden. Während sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei der Definition des Begriffes Narrativ auf einen gemeinsamen Nenner einigen mussten, ging es bei den nationalen Perspektiven auf die Geschichte um Vielfalt und das bewusste Anderssein. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer – in ihren Herkunftsländern als Historiker und Museumspädagogen tätig – brachten ihre eigene Sicht auf die Vergangenheit nach Danzig/Gdansk mit und arbeiteten am gemeinsamen Thema, dem Zweiten Weltkrieg.

Das erst 2017 neu eröffnete Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig/Gdansk (siehe auch unser Foto oben) war ein Ziel der Reisegruppe.

Die Stadt Danzig/Gdansk, in der der Krieg vor 80 Jahren begann, eignete sich wie keine andere für die Bildungsreise. Denn in den vergangenen Jahren ist die Stadt selbst zum Schauplatz eines Wettstreits um die Deutungshoheit zu jenem Krieg geworden. Das 2017 eröffnete Museum des Zweiten Weltkriegs (Muzeum II Wojny Światowej) bietet seinen Besuchern einen multiperspektivischen Blick auf die Kriegserfahrungen in Europa und der übrigen Welt – sehr zum Unmut der Anhänger einer klassischen nationalen Perspektive.

Für die Teilnehmer der Bildungsreise war der Besuch des Museums ein erstes Highlight und ein guter Einstieg in die Thematik. In Gruppen nach Ländern aufgeteilt beschäftigten sich die jungen Akteure der Erinnerungsarbeit zunächst mit den bekanntesten historischen Narrativen aus ihren Herkunftsländern. Dabei ging es darum, diese zu beschreiben und im nächsten Schritt Leerstellen zu identifizieren.

In internationalen Gruppen wurden schließlich die vorgestellten Narrative analysiert und erweitert. Es gab einiges zu diskutieren: „In welchem Kontext muss das deutsche Narrativ von Flucht und Vertreibung erzählt werden?“ „War die Befreiung Polens durch die Rote Armee 1945 auch aus der polnischen Perspektive eine Befreiung?“ „Waren die ukrainischen Nationalisten Kollaborateure oder Wegbereiter einer späteren unabhängigen Ukraine?“ – um nur wenige Bespiele der brisanten Themen zu nennen. Ziel der Studienreise war es jedoch nicht, die historischen Ereignisse möglichst präzise zu rekonstruieren. Es ging vielmehr darum, in einem moderierten Dialog ein Gefühl für die zahlreichen, multiplen Perspektiven auf die Vergangenheit zu entwickeln.

Die Betrachtung der eigenen Geschichte mit fremden Augen brachte nicht nur aufschlussreiche und interessante Aha-Effekte mit sich. Sie forderte den Teilnehmern auch die Bereitschaft ab, die eigenen, vertrauten Ansichten zu hinterfragen. Diese Erfahrung wurde von allen Teilnehmern der Bildungsreise als große Bereicherung empfunden.

„Es war schwierig, uns in der gemischten Gruppe auf etwas zu einigen, selbst, wenn es um absolut konfliktfreie Themen gibt. Aber genau deshalb war es auch so wichtig“, resümierte eine russische Teilnehmerin ihre Erfahrungen.

Die Gruppe wird ihre Arbeit an multiperspektivischen Geschichtsprojekten fortsetzen. Geplant sind unter anderem eine Foto-Installation, ein Gesellschaftsspiel und Lehrmaterialien für den Schulunterricht.

Die Bildungsreise wurde realisiert vom Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk gGmbH (IBB Dortmund) und der Internationalen Bildungs- und Begegnungsstätte „Johannes Rau“ in Minsk (IBB Minsk) in Kooperation mit der Stiftung zur Entwicklung der Brester Festung (Belarus), der Stiftung „Holocaust“ (Russland) und der Ukrainischen Assoziation für Oral History (Ukraine).

Gefördert wurde die Studienfahrt durch das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland.

Für Anfang September ist eine weitere Bildungsreise nach Berlin für Akteure der Erinnerungsarbeit aus Belarus, der Ukraine, Russland und Deutschland geplant. Die Ausschreibung folgt in Kürze.

Alle Fotos auf dieser Seite: Dmitrij Astaschkin

#civilsocietycooperation