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Zeitzeugengespräch „Wandel.Wechsel.Wende“ als Video-Konferenz: Thomas Pilz berichtete über die friedliche Revolution 1989

Zeitzeugengespräch „Wandel.Wechsel.Wende“ als Video-Konferenz: Thomas Pilz berichtete über die friedliche Revolution 1989

Thomas Pilz, Geschäftsführer der Hillerschen Villa in Zittau, war am Montag, 26. Oktober 2020, der erste von drei Zeitzeugen der friedlichen Revolution 1989, die im Rahmen des Projektes „Wandel.Wechsel.Wende“ mit Schülerinnen und Schülern aus Unna und Essen über die Ereignisse vor 30 Jahren in der damaligen DDR sprachen. „Wegen der rasant steigenden Infektionszahlen mussten wir kurzfristig die Notbremse ziehen und die Zeitzeugengespräche als Video-Konferenz anbieten“, bedauerte IBB-Referent Maximilian Gröllich, der die Reihe organisiert hatte und die Gespräche moderierte. „Wir hatten bis zuletzt gehofft, dass wir die Reihe in Form von Präsenzterminen anbieten können.“ Vier der fünf Schulen, die sich ursprünglich an der von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur geförderten Reihe beteiligen wollte, mussten wegen fehlender technischer Voraussetzungen kurzfristig absagen. Das Mariengymnasium Essen-Werden sprang kurzfristig als neuer Partner ein.

Warum ein Aufnäher auf seiner Jacke für reichlich Ärger in der Schule sorgte, berichtete Thomas Pilz.

Für den 55-jährigen Thomas Pilz, der ab und an als Zeitzeuge in Schulen zu Gast ist, war ein Zeitzeugengespräch in Form einer Videokonferenz am Montag auch eine ungewohnte Situation. „Ich bin es gar nicht gewohnt, so lange Monologe zu halten“, sagte er und bat die Zuschauenden im Klassenraum um Fragen. Aus seinem Wohnzimmer in Zittau im Dreiländereck Deutschland- Polen-Tschechien berichtete er dann, wie er als Kind einer Pfarrersfamilie schon früh auf Distanz ging zur Staatsdoktrin und zur Sozialistischen-Einheitspartei (SED). Als einziger von 23 Schülern sei er weder Pionier noch FDJ‘ler geworden. „Durch mein Elternhaus und meine christliche Erziehung waren mir bestimmte Bildungswege ohnehin versperrt“, berichtete Pilz. Nur durch eine glückliche Fügung – eine kurzfristige Lockerung der strengen Zugangsvoraussetzungen von Christen zu höheren Bildungsabschlüssen – durfte er das Gymnasium besuchen, obwohl Christen grundsätzlich als nicht ideologietreu galten.

„Kritik am sozialistischen Weg war einfach nicht vorgesehen“, spürte er schon früh. Als er schließlich als Jugendlicher auch noch einen kleinen Aufnäher mit dem Motto der Evangelischen Friedensdekade 1980 „Schwerter zu Pflugscharen“ an seiner Jacke anbrachte, stand er endgültig unter staatlicher Beobachtung. „Ein Lehrer hat sich sogar ausdrücklich geweigert, mich zu unterrichten“, berichtete Thomas Pilz. Mitschülerinnen und Mitschüler versuchten in den Pausen, den Aufkleber abzureißen. „Ich habe meine Jacke dann auch im Unterricht angelassen“, zeigte sich Pilz wenig beeindruckt. Insgesamt elf Mal habe ihn auch die Polizei mitgenommen auf die Wache, „‘zugeführt‘“ hieß das damals“, gab Pilz auch einen Einblick in die im Westen wenig bekannten Begrifflichkeiten der damaligen DDR. Er wurde aufgefordert, den Aufnäher zu entfernen. Einmal wurde seine Jacke sogar beschlagnahmt. „Ich erzähle Euch dies nur, um zu zeigen, was für eine Wirklichkeit herrschte in Bezug auf die Meinungsfreiheit.“

Mitte der 1980er Jahre begann er eine Ausbildung in einem Heim für Menschen mit schweren geistigen und körperlichen Behinderungen – und fand im Kollegenkreis erstmals Gleichgesinnte und Anschluss an ein Netzwerk von kritisch denkenden Menschen, die sogar Kontakte nach Leipzig und Berlin hatten. „Ich war damals wild entschlossen, im Land zu bleiben“, sagt er heute. Und: „Es sollte nie in einem Land erlaubt sein, die Bürger einzusperren.“ In der Friedensgruppe Zitttau und später Umweltbibliothek Großhennersdorf wurde die Politik der Einheitspartei kritisch diskutiert. „Wir wussten damals nicht, wie intensiv die Stasi uns beobachtet hat“, sagt er heute. Erst nach dem Mauerfall erfuhr er, dass informelle Mitarbeiter in die Gruppierungen eingeschleust wurden, dass die Gespräche im Kollegenkreis am Ende Tausende Seiten und mehrere Bände Stasi-Akten füllten.

Den aus seiner Sicht entscheidenden Impuls zur friedlichen Revolution habe schließlich die kritische Beobachtung der Wahlen am 7. Mai 1989 gegeben, hinter vorgehaltener Hand „Zettelfalten“ genannt: „Wir waren in allen 31 Wahllokalen in unserer Stadt bei der Auszählung dabei und konnten am Ende nachweisen, dass das Wahlergebnis manipuliert war“, sagte Pilz. Dabei sei die Abweichung nicht einmal besonders groß gewesen. Doch dass überhaupt nachweislich falsche Zahlen veröffentlicht wurden, habe weitere Kreise aufhorchen lassen und viele Menschen sensibilisiert. Am 19. Oktober 1989 gehörte Thomas Pilz zu denen, die das Neue Forum in der Oberlausitz vorstellten. In eine Kirche hatte das Forum eingeladen. Am Ende waren drei Kirchen gefüllt und die Rednerinnen und Redner, unter ihnen Pilz, wanderten von Kirche zu Kirche. Mehr als 10.000 Menschen kamen.

„Wir wussten damals nicht, wie dies ausgehen wird“, sagte Thomas Pilz heute rückblickend. Der gewaltsam niedergeschlagene Aufstand vom 17. Juni 1953 sei für viele der Älteren traumatisch und lähmend gewesen. Als 1989 so große Menschenmengen mobilisiert wurden, habe auch die Gefahr in der Luft gelegen, dass die eigentlich friedliche Stimmung in Gewalt umschlägt. Die Demonstrierenden hätten deshalb am Ende sehr bewusst das Friedenslied „Dona nobis pacem  („Gib uns Frieden“) angestimmt: „Mit diesem Lied auf den Lippen entsteht keine gewaltsame Aktion“, sagt der Pfarrerssohn.

Am 18. März 1990 schließlich sei zum ersten Mal wirklich frei gewählt worden – übrigens mit einem enttäuschenden Ergebnis für die Akteure des Neuen Forums. „Die meisten Menschen haben damals die großen Parteien CDU und SPD gewählt“, sagt Pilz. Das sei eben Demokratie. Bis heute ist er allerdings für Bündnis 90/Die Grünen aktiv und zurzeit Fraktionsvorsitzender der gemeinsamen Fraktion mit der SPD und einer Wählergemeinschaft im Kreistag von Görlitz.

Die Schülerinnen und Schüler in Unna haben die ganze Zeit über gespannt zugehört und wollen am Ende genauer wissen, wie der Aufnäher wohl aussah, mit dem der Weg zu den vom Staat so gefürchteten Oppositionellen begann und warum es nur eine Partei gab, die auch noch Einheitspartei genannt wurde. Thomas Pilz beantwortete die Fragen ausführlich und gab manchen Hinweis zur tieferen Beschäftigung mit der Geschichte. Der Glaube an die Unfehlbarkeit der Partei, wie er auch ausgedrückt wird im „Lied der Partei“, einer Lobeshymne auf die SED, sei regelrecht verinnerlicht worden von vielen Menschen.

Warum er persönlich trotz des mächtigen Staatsapparates und trotz mehrfacher polizeilicher „Zuführungen“ keine Angst hatte? „Das System der Diktatur und des Kommunismus basiert auf Angst. Wenn man keine Angst mehr hat, hat das System auch keine Macht mehr“, sagt Pilz, der erst heute im Rückblick ermessen kann, dass die Situation auch für ihn persönlich zeitweise brandgefährlich war. „Ich hatte einfach keine Angst.“

Heute schaue er gleichermaßen beeindruckt und bewegt nach Belarus, wo sich ebenfalls an einer Wahlfälschung eine breite Welle des Protestes entzündet hat.

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