Nachrichten

Internationales Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund

Zeitzeugengespräch „Wandel. Wechsel. Wende“ – Andreas Kosmalla schildert Jugend in der DDR

Zeitzeugengespräch „Wandel. Wechsel. Wende“  – Andreas Kosmalla schildert Jugend in der DDR

Den Abend des 10. Novembers 1989 erlebte Andreas Kosmalla in Stuttgart – dabei war der heute 58-Jährige doch „hinter der Mauer“ aufgewachsen. Wie seine Jugend in der damaligen DDR aussah, wie er zum Oppositionellen wurde und wie es dazu kam, dass er sich am Morgen des 10. November eine Fahrkarte nach Westdeutschland kaufen konnte, erzählte er in einem virtuellen Zeitzeugengespräch in der Reihe „Wandel.Wechsel.Wende“ am Dienstag, 27. Oktober 2020, Schülerinnen und Schülern des Werkstatt Berufskollegs in Unna.

Corona-bedingt musste auch das zweite Zeitzeugengespräch in der Reihe, die durch eine Förderung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur realisiert werden konnte, kurzerhand in den virtuellen Raum verlegt werden. Andreas Kosmalla, früher Leiter eines Flüchtlingsheims in Brandenburg, heute Sozialarbeiter in einem Berliner Flüchtlingsheim, war auf einem Whiteboard im Klassenzimmer zu sehen und baute schnell eine persönliche Beziehung zu den Zuhörenden auf.

„Ich hätte es bequemer haben können“, sagte er, „aber ich hatte gar keine Chance, ein ruhiges Leben zu führen.“

Als ältestes von drei Kindern in eine Pfarrersfamilie geboren, zählte Andreas Kosmalla zu den „Christenmenschen“. Der christliche Glaube schien der Staatsdoktrin aber kaum vereinbar mit der Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit. Daher habe er schon früh Ausgrenzung gespürt. Wegen seiner Herkunft sei ihm der Weg zu einem höheren Bildungsabschluss trotz guter Noten versperrt gewesen. „Das macht etwas mit einem, wenn man nicht wirklich dazugehört.“ Andreas Kosmalla wurde ständig mit Fragen konfrontiert, wie zum Beispiel, ob Marxismus und Christentum sich nicht ausschließen. Seine Position diskutierte und schärfte er in kirchlichen Jugendgruppen, denn die Kirche gab Raum für freie Rede und eine Gegenwelt. „Ich war nach einer Weile geübt in der Argumentation.“ Die Jugendlichen führten damals ein zweigeteiltes Leben: Die Schule war das eine, die eigene Meinung das andere. „Privat schauten wir West-Fernsehen und sprachen offen.“

Ende der 1970er Jahre spitzte sich die Lage zu. In der Schule wurde ein Wehr-Unterricht eingeführt. Mitten in Europa wurden Atomwaffen stationiert. Der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR setzte auf eine Erziehung zum Frieden. Mit der ersten Friedensdekade 1980 wurde das Bibelwort „Schwerter zu Pflugscharen“ zu einem Slogan der wachsenden Zahl kirchlicher Friedensgruppen in der DDR (und später auch in Westdeutschland). Für Heranwachsende in der DDR wurde die Frage, wie man sich selbst zum Wehrdienst stellen wird, zu einer die weitere Zukunft entscheidenden Frage. „Man musste sich entscheiden: Wollte man sich anpassen oder wollte man sich wehren?“ Die Antwort, das war allen klar, stellte eine Weiche für den weiteren Werdegang. Damals sei man schon mit vergleichsweise harmlosen Äußerungen oder Handlungen angeeckt. Andreas Kosmalla trug einen Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ und geriet ins Visier der staatlichen Stellen. „Die Polizei hat den Aufnäher abgemacht!“

Seinen Wehrdienst leistete Andreas Kosmalla schließlich ohne Waffe als sogenannter Bausoldat in Prora auf Rügen. „Dort traf ich auf rund 400 Menschen, die ebenfalls nicht angepasst waren, so wie ich. Wir haben uns zusammengeschlossen und Arbeitskreise gegründet und später Leute beraten, die auch ihren Wehrdienst verweigern wollten.“ Einen Zivildienst nach dem Vorbild aus Westdeutschland wollten die Bausoldaten nicht, sondern stattdessen einen dritten Weg. „Aber so eine Diskussion hatte in der DDR immer Konsequenzen.“

Bei der Einsicht in seine Stasi-Akten erfuhr er viele Jahre später, dass er schon damals ins Visier der Stasi geriet. Die vergleichsweise harmlose Beratungsarbeit trug ihm den Verdacht einer „Politischen Untergrund-Tätigkeit (PUT)“ ein. „Man war einfach in einem großen Topf– und die Stasi hatte einen auf dem Kieker!“

Nach Westdeutschland hatte er persönliche Kontakte durch die kirchliche Jugendarbeit. Als er am 9. November 1989, einem Donnerstag, nach der wöchentlichen Demonstration in die Wohnung von Mitstreitenden kam, berichteten ihm diese von „so einer komischen Radiomeldung“. Gemeint war die neue Reiseregelung für DDR-Bürger, die Günter Schabowski abends am Ende einer Pressekonferenz eher beiläufig bekannt gegeben hatte. Andreas Kosmalla machte sich gleich am nächsten Morgen um 7 Uhr auf den Weg, tat das bis dahin Unvorstellbare und kaufte am Bahnhof eine Fahrkarte nach Westdeutschland. „Ich weiß noch, dass der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl gerade in der Tagesschau zu sehen war, als ich in Stuttgart das Wohnzimmer meiner westdeutschen Freunde betrat.“ Am Ende gelang es ihm auf Umwegen doch noch, sein Abitur zu machen und ein Lehramtsstudium zu beginnen.

Die Schülerinnen und Schüler hingen 90 Minuten an seinen Lippen und hatten am Ende eine ungewöhnliche Idee: Sie baten um ein Gruppenbild mit dem Zeitzeugen auf dem Monitor.

Weitere Informationen über unsere Angebote zur Erinnerungsarbeit finden Sie hier.