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Internationales Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund

Zeitzeugenprojekt „Wandel. Wechsel. Wende“: Mariengymnasium Essen gestaltete moderiertes Interview mit Gisela Kallenbach

Zeitzeugenprojekt „Wandel. Wechsel. Wende“: Mariengymnasium Essen gestaltete moderiertes Interview mit Gisela Kallenbach

Gut vorbereitet und gleich mit einer starken Frage stieg das Mariengymnasium Essen am Mittwoch, 28. Oktober 2020, in das Zeitzeugengespräch mit Gisela Kallenbach aus Leipzig im Rahmen der Reihe „Wandel.Wechsel.Wende“ ein, die durch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gefördert wird: „Wie finden Sie eigentlich, dass die AfD den Slogan der damaligen Bürgerrechtsbewegung ‚Wir sind das Volk!‘ nutzt?“ Die 76-jährige Bürgerrechtlerin antwortete via Video aus ihrer Wohnung den Schülerinnen und Schüler, die im luftigen Forum der Schule vor einem Monitor versammelt waren, mit klaren Worten: „Das ist ein ganz klarer Missbrauch!“

Damals, 1989, sei es regelrecht gefährlich gewesen, gegen die Obrigkeit aufzubegehren. Es habe viel Mut dazu gehört – anders als heute. „Es ist doch ganz offensichtlich ziemlich widersprüchlich, wenn heute Verschwörungstheoretiker kritisieren, sie dürften nicht ihre Meinung sagen, und dies doch öffentlich und ungestraft kundtun können.“

Gisela Kallenbach berichtete dann, was Opposition in der DDR der 1980er Jahre bedeutete. „Offiziell gab es keinen Smog und keine Umweltschäden. Dabei sahen wir mit eigenen Augen, dass die Flüsse schwarz und von Schaumkronen überzogen waren und wir merkten doch selbst, dass die Luft nicht zum Atmen war.“ Andere seien durch den aufkommenden Wehr-Unterricht in der Schule politisiert worden. Für sie selbst seien der Missbrauch der natürlichen Lebensgrundlagen und das Kritikverbot entscheidend gewesen.

Die Kirche habe eine wichtige Rolle gespielt, weil sie Andersdenkenden Raum gab. „Es gab ja kein Vereinigungs- und Versammlungsrecht!“ Pfarrer eröffneten mit Umwelt- und Friedensgruppen einen Schutzschirm. Gisela Kallenbach war schon seit 1982 Mitglied der Arbeitsgruppe Umweltschutz unter dem Dach der Kirche.

Sie selbst habe schon früh Ausgrenzung gespürt, nachdem sie – Kind eines selbstständigen Handwerksmeisters – auch noch christlich konfirmiert worden war. Der Weg zum Abitur war ihr dadurch trotz guter Leistungen versperrt. „Die Erziehung zu einer sozialistischen Persönlichkeit setzte nach DDR- Doktrin unter anderem auch voraus, dass man Mitglied bei den Pionieren und der Freien Deutschen Jugend (FDJ) wurde und schließlich bei der Jugendweihe ein klares Bekenntnis zum sozialistischen Staat abgab“, erläuterte sie den aufmerksam zuhörenden Jugendlichen. Ideologietreue galt es zu beweisen. „Wenn man genauer hinhörte, welchen Text die Jugendlichen mit ihrem Bekenntnis bei der Jugendweihe abgaben, hätte man dies gar nicht zulassen dürfen!“Doch wer in der DDR aufgewachsen war, habe gelernt, mit zwei Zungen zu reden: Mit der einen in der Schule und im Arbeitsleben, mit der anderen nur Zuhause und im engsten Freundeskreis. Die Jugendweihe und das Bekenntnis seien von den meisten gar nicht hinterfragt worden.

Was Opposition bedeutete, habe sie selbst zu spüren bekommen, als sie – damals Chemielaborantin – zum Umwelttag am 5. Juni eine Wandzeitung gestaltet habe, was damals ein übliches Medium in Betrieben war. „Wir hatten einige Zahlen zusammengestellt zum Zustand der Umwelt“, berichtete sie. Die Zahlen stammten aus öffentlich zugänglichen Büchern. So könne man zum Beispiel die Sonnenstunden als Indikator für Luftverschmutzung interpretieren. Schon diese im Grunde harmlose Aktivität habe ihr eine sogenannte operative Personenkontrolle durch den Staatssicherheitsdienst der DDR eingebracht. Erst nach 1990 erfuhr sie dann, dass der betriebliche Parteisekretär den „Vorfall“ der Stasi gemeldet hatte.

Als wesentlichen Auslöser der friedlichen Revolution schilderte sie die Kommunalwahlen im Mai 1989, bei der sie selbst im Netzwerk mit Gleichgesinnten die öffentliche Auszählung beobachtet und das abweichende Ergebnis bekannt gemacht hatte. „Es gab damals ja nur den Wahlvorschlag der Nationalen Front. Ich musste erst lernen, wie man überhaupt mit „Nein“ abstimmt!“

Die Proteste in Belarus beobachtet sie vor dem Hintergrund der Parallelen mit großem Interesse. „Wir haben Anfang September zusammen mit 50 ehemaligen Bürgerrechtlern eine Grußadresse nach Belarus geschickt“, berichtete sie auf Nachfrage. „Bei uns hat damals auch alles begonnen mit einer gefälschten Wahl. Wir fühlen uns sehr verbunden.“

Bei den Jugendlichen in Essen warf das weitere Fragen auf: „Können Sie eigentlich verstehen, warum jemand in Deutschland aus Protest nicht wählen geht?“ Gisela Kallenbach, die nach der Wende unter anderem Mitglied im Europaparlament und im Sächsischen Landtag war, ließ keinen Zweifel: „Wenn jemand engagiert ist, so wie ich, tut das regelrecht weh!“ Damals habe die Bevölkerung der DDR das Recht auf freie Wahlen erkämpft! Wählen sehe sie deshalb als Bürgerpflicht.

Die Schülerinnen und Schüler aus Essen wollten auch wissen, wie die Trägerin des Bundesverdienstkreuzes heute auf die Wiedervereinigung zurückblickt. „Für mich ist erstaunlich, dass man heute zum 30. Jahrestag die Unterschiede und Nachteile betont, wie zum Beispiel den geringen Anteil Ostdeutscher in den Führungsetagen der Wirtschaft, anstatt auch auf das Erreichte zu schauen!“ Vieles habe sich zum Positiven verändert. Die Städte seien attraktiver, die Häuser saniert, die Umwelt in einem besseren Zustand. Allerdings seien die wenigsten Häuser im Besitz Ostdeutscher. Und: Es fehle die Wahrnehmung dafür, dass sich für die Menschen in Ostdeutschland das Leben vollkommen und grundsätzlich geändert hat – während es für die Menschen in Westdeutschland weiterging wie zuvor. Sie plädierte daher für mehr Austausch und Dialog und lud ihre Zuhörerschaft nach Leipzig ein.

Die Schülerinnen und Schüler bedankten sich mit anhaltendem Applaus.

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