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Europakolumne 11: Respekt gibt es für Leistung und Logik

Europakolumne 11: Respekt gibt es für Leistung und Logik

Als Ahmad Abbas 2015 zum ersten Mal In Kontakt mit Europa kommt, muss er seine Vorstellung von Europa stark anpassen. Er sagt, das erste Land, das ihm einen realistischen Eindruck von Europa vermittelt habe, sei Griechenland gewesen.

Ahmad ist 23 Jahre alt, hat in Syrien Jura studiert und lebt aktuell in Bochum, wo er im Kulturbereich arbeitet. In Syrien, sagt Ahmad, sei ihm immer schon eine gewisse Feindlichkeit gegenüber Europa vermittelt worden: „Wir waren selbst Kolonie Frankreichs. Europa, das waren für mich immer die Besetzer der Welt.“ Obwohl die Geschichtsbücher es ihm anders erzählen, je mehr er in Filmen und TV von Europa sieht, beginnt Ahmad vom Lebensstil in Europa zu träumen. Er sagt: „Man denkt, alles sei einfach und umsonst in Deutschland. Keiner müsse Hunger haben, es gebe ein Sozialsystem, Hartz-IV.“

Der 23-Jährige erklärt: „Womit man hier arm ist, lebt man in Syrien überdurchschnittlich. In Syrien leben arme Menschen zu siebt, zu acht Leuten in einem Zimmer. Hier bedeutet es, dass man sich keinen Zugang zu Kultur und Kunst leisten kann.“ Ahmad sagt: „Ich habe das Gefühl, es gibt viel mehr Bildung in Europa – zumindest hier in der Seifenblase in Bochum, in der ich lebe.“ Aber er erinnert auch negative Situationen. Zum Beispiel, als er in einem Gastronomiebetrieb in Bochum Stiepel gearbeitet hat. „Ich dachte, die Arbeitsbedingungen hier wären gut. Aber 14 Stunden ohne Pause. Das war normal. Den Betriebsleiter hat das nicht interessiert.“

Man fährt lieber in den Urlaub als zu helfen

Zu der Zeit trug Ahmad außerdem noch lange Haare, Locken und hat deswegen einen Haarreifen während der Arbeit in der Küche benutzt. Seine Arbeitskollegen fragten daraufhin: „Ey Alter, was ist los mit dir? Bist du schwul geworden?“ Ahmad sagt: „Das hatte ich 2018 in Deutschland nicht erwartet. Es ging dort immer nur um Ficken und Frauen. Ich habe in der Zeit so viele Schimpfworte gelernt. Und alle dort waren biodeutsch.“ Auch habe er erwartet, dass die Menschen in Europa weniger religiös seien. „Ich habe mich sehr gewundert zu sehen, wie religiös sie doch noch sind.“ Ein anderes Thema sei Sexualität: „Ich habe gedacht, alles wäre tolerant und offen. Dem ist aber nicht unbedingt so.“

Mittlerweile hat der 23-Jährige einige Länder Europas gesehen. Unter anderem Mazedonien, Ungarn, Serbien, Deutschland, Belgien und die Niederlande. Er sagt: „Ich habe kein Problem mit Europa, sondern mit Menschen. Der Staat tut viel für Menschen. Es fehlt in Europa manchmal Solidarität. Ich habe ab und zu das Gefühl, jeder sorgt sich um sich selbst und fragt sich nicht, ob es anderen gut geht. Man fährt lieber in den Urlaub statt zu helfen.“ Ahmad sagt, er selbst sei da auch nicht besser: „Manchmal denke ich, was habe ich da für Fleisch gekauft? Ich habe das hier auch alles von engagierten Menschen gelernt, zum Beispiel, Plastik nicht mehr zu benutzen. Aber ich frage mich, warum sollen wir sowas nur auf individueller Ebene ändern statt gesamtgesellschaftlich. Auch Medien gehen lieber auf kleine Sachen wie Strohhalme ein statt auf große Themen wie Braunkohleabbau. Oder das Verbot von Dieselautos. Wer wird da getroffen? – Die kleinen Leute, die sich kein neues Auto leisten können.“

Diskutieren statt Schimpfen

Ahmad sagt, er habe sich sehr gewundert, dass die Menschen in den Niederlanden zivilisierter wirkten als jene in Deutschland. Es gebe dort bessere Straßen, mehr Ordnung, obwohl man in Deutschland mehr zahle. „Für mich ist es ein Wunder. Allein die Verkehrssituation scheint mir in den Niederlanden viel besser. In Deutschland herrscht eine gewisse Aggressivität beim Autofahren. Bei dem Thema gibt es keine Toleranz. Da geht es so richtig mit Scheuklappen zu. Für mich ist es erstaunlich, dass öffentliche Verkehrsmittel hier nicht umsonst sind, obwohl man mit seinem Gehalt schon so hohe Steuern zahlt. Hinzu kommen 19 Prozent Mehrwertsteuer. Ich frage mich, wenn es nicht in Infrastruktur fließt, wohin fließt es dann?“

Zum Ende unseres Gesprächs fügt Ahmad noch hinzu: „Ich habe hier mehr Respekt bekommen als in meiner Heimat. In Syrien fragen dich die Leute: Wer bist du, um Politik zu diskutieren. In Deutschland zählen Logik und Leistung immer. Das wird hier respektiert. Und die Leute fangen nicht einfach an zu schimpfen, sondern eher eine Diskussion zu führen.“

Chantal Stauder