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Internationales Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund

Projekt netcoops nimmt unbegleitete minderjährige Zugewanderte und Suchtproblematik in den Blick

Sie fliehen vor Krieg oder Bürgerkrieg (80 Prozent), vor religiöser oder ethnischer Verfolgung (42 Prozent) oder versuchen schlicht, der Perspektivlosigkeit in ihrem Herkunftsland zu entkommen (61 Prozent) – und stehen am vorläufigen Ziel ihres Fluchtweges vor ganz besonderen Herausforderungen: Unbegleitete minderjährige Flüchtende standen im Mittelpunkt der dritten Fortbildung für Asylverfahrensbeteiligte im Rahmen des Projekts „netcoops“. Außerdem ging es um das Thema Sucht und Flucht.

Die aktuellen Bilder aus Afghanistan verliehen der Online-Tagung besondere Brisanz. Zu den sechs  Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern von Kabul kommen aktuell insbesondere aus den Nordregionen des Landes rund zwei Millionen Binnenflüchtlinge in die Hauptstadt – viele aus ethnischen Minderheiten wie Hazara oder Tadschiken. Die einmarschierenden Taliban, aus dem Ausland kommend, zeigten sich verwundert ob der großen Zahl von Drogenabhängigen im Land. Die Menschen campieren zum Teil unter freiem Himmel ohne jedwede Unterstützung. Aus Angst vor drohender Verfolgung und Arbeitslosigkeit, weil internationale Hilfsorganisationen das Land verlassen, machen sich viele bereits verzweifelt zu Fuß auf den Weg in Richtung Türkei oder Pakistan,   nehmen Hunger, Obdachlosigkeit und weitere Strapazen der Flucht in Kauf. Darunter sind sehr häufig auch unbegleitete Kinder und Jugendliche, allein oder in kleinen Gruppen.

Vor diesem Hintergrund verfolgten die Seminarteilnehmenden den einführenden Vortrag von Fahim Sobat, Trainer für interkulturelle Kompetenz aus Rosenheim. Er beschrieb die besondere Situation der minderjährigen Flüchtenden, die nach Informationen des Flüchtlingshilfswerks UNHCR nicht selten von Schlepperbanden irgendwo in Deutschland abgesetzt werden. „Sie sprechen die Sprache nicht und haben weder Geld noch etwas zum Essen.“ Das Schicksal dieser Kinder und Jugendlichen hänge faktisch von den teilweise scheinbar willkürlichen Entscheidungen einzelner Behörden ab – die häufig auf diese Aufgabe nur unzureichend vorbereitet und häufig auch unterbesetzt seien. In einigen Städten liege der Betreuungsschlüssel bei einer Fachkraft für 100 unbegleitete Minderjährige.

Dabei stehen alle minderjährigen Zuwandernden im Alter bis 18 Jahren unter dem besonderen Schutz der UN-Kinderrechtskonvention, die1992 in Deutschland in Kraft trat. Damit haben sie zum Beispiel Anspruch auf einen Schulbesuch, der spätestens drei Monate nach ihrer Erstaufnahme beginnen soll, auf eine besondere Betreuung während eines Asylverfahrens und auf einen Vormund, der ihre Interessen vertritt und bei gesundheitlichen Problemen hilft.

In der Praxis prüfen die Behörden meist erst einmal, ob die Altersangabe stimmt. Mehrere Bundesländer haben Clearing-Stellen unter Federführung der Jugendämter eingerichtet, in denen dann über das weitere Schicksal der Kinder und Jugendlichen entschieden wird. Welche Bleibeperspektive haben die Betroffenen, welche medizinischen oder psychologischen Behandlungen sind nötig und wo können die Betroffenen überhaupt wohnen? Werden sie nur befristet „geduldet“ oder kann ein Asylverfahren eingeleitet werden, das gerade bei jungen Menschen aber immer auch belastende Erinnerungen an Gewalterfahrungen im Heimatland oder auf der Flucht neu aufflammen lassen kann.

2019 betreute die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland rund 31.200 unbegleitete Minderjährige und junge Volljährige. Der Anteil geflüchteter Mädchen lag 2019 bei 22 Prozent – Tendenz steigend. Jeder zweite minderjährige Zugewanderte lebe auch nach mehreren Jahren noch in Erstaufnahmeeinrichtungen oder Gemeinschaftsunterkünften, berichtete Sobat. Zur seelischen Gesundheit der besonders vulnerablen Zugewandertengruppe gebe es keine repräsentativen Daten. Vielfach werde über Vereinsamung geklagt. Die plötzliche große Freiheit und fehlende Kontrolle durch Eltern könne in Kombination mit Problemen in der Schule oder Ausbildung in eine Sucht oder Straffälligkeit münden.

Die Seminarteilnehmenden, die alle an unterschiedlichen Stellen und in unterschiedlichen Bundesländern an Asylverfahren beteiligt sind, diskutierten über eine verlängerte Zuständigkeit der Jugendhilfe bis zu einem Alter von 25 Jahren wie es analog teilweise in anderen Verfahren gehandhabt wird, wenn die betreffende Person noch unreif erscheint. Ein differenziertes Schnittstellen- und Übergangsmanagement könne dann Probleme frühzeitig erkennen und ein Abrutschen in die Sucht oder Delinquenz verhindern.

Tabletten sind in Europa vergleichsweise leicht zugänglich und können in eine Abhängigkeit führen. Foto: ivabalk - Pixabay

Tabletten sind in Europa vergleichsweise leicht zugänglich und können in eine Abhängigkeit führen. Foto: ivabalk – Pixabay

Dies leitete über zum zweiten Thema des Tages: Sucht und Flucht. Hildegard Azimi-Boedecker, Leiterin des Fachbereichs Beruf international und Migration, und Referentin Kirsten Ben Haddou beschrieben einen Kreislauf aus individueller Vorgeschichte, Tabus und psychischer Belastung, einer neuen Konsumkultur und Belastungen aus dem Asylverfahren. All dies könne Suchtverhalten begünstigen. Ziel des Suchtmittelkonsums sei es meist, Ängste zu verdrängen, Hunger und Schmerz zu stillen und lange wach oder zumindest entspannter zu sein. Das helfe, um beispielsweise nächtliche Überfälle abzuwehren oder die Situation ertragbarer zumachen, da viele Flüchtende in Parks etc. der Transitländer schlafen müssen. Tabak, Alkohol und – in Europa Medikamente – seien vergleichsweise leicht zugänglich. Neue psychoaktive Substanzen wie „Spice“ und „Bonsai“, aber auch Kokain, Heroin oder synthetische Drogen dienten zur stärkeren Betäubung und führten oft in eine finanzielle und körperliche Abhängigkeit und damit in einen neuen Teufelskreis, wenn Schulden bei Schleusern durch Dealen oder Prostitution abgearbeitet werden müssen.

Die Referentinnen gaben einen Überblick über die unterschiedlichen Haltungen zu Drogen in der Geschichte und in unterschiedlichen Regionen der Welt. Bestehende religiöse Verbote werden oft überlagert durch Traditionen des Drogenkonsums z. B. durch Ältere oder durch die Unzugänglichkeit teurer Medikamente im Herkunftsland. Anhand von Fallbeispielen diskutierten die Seminarteilnehmenden sodann, welche persönlichen Erfahrungen ein Suchtverhalten begünstigen kann und welche Rolle dies möglicherweise auch für ein Asylverfahren spielen kann. Die Referentinnen zeichneten ein differenziertes Bild über den auch geschlechtsspezifischen Umgang mit seelischen Belastungen und körperlichen Schmerzen. So sind Alkohol- und  Drogenmissbrauch eher bei männlichen, Tablettenkonsum und Polypharmazie eher bei weiblichen Geflüchteten zu beobachten. Und sie gaben Beispiele, mit welchen Chiffres betroffene Männer und Frauen gleichermaßen trotz aller Tabus eventuell in Andeutungen über erlittene Missbrauchserfahrungen im Kindes- oder Erwachsenenalter berichten.

Die aktuelle Forschung zeige, dass das Gros der Patientinnen und Patienten eine Abhängigkeit erst im dritten Abschnitt der Migration entwickelt, also in Europa. Bei Erwachsenen sei eine Zunahme des Drogenkonsums bei längerer Verweildauer in Deutschland zu beobachten, zitierte Hildegard Azimi-Boedecker Praxiserfahrungen der Beratungsstelle Condrobs München. Ein sozialer Abstieg, Perspektivlosigkeit und Angst vor Abschiebung begünstigen den Griff zu Betäubungsmitteln jeder Art.

Unter unbegleiteten Minderjährigen (die den Weg in Beratung finden) – so schloss sich der Themenkreis am dritten Seminartag – konsumiere ein Drittel anfangs stark Alkohol und Cannabis, besonders oft im Zusammenhang mit posttraumatischen Belastungsstörungen. Der Konsum nehme aber deutlich ab mit zunehmender Integration und Teilhabe – was den Ruf nach einem guten Schnittstellenmanagement und einfühlsamer Hilfestellung direkt ab Ankunft in Deutschland untermauert.

Im nächsten Seminar am Mittwoch, 29. September 2021, geht es um vulnerable Gruppen im Asylverfahren und die EU-Richtlinien.

Das Projekt „netcoops – Fortbildungen für Asylverfahrensbeteiligte“ wird durch den Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds der EU gefördert.

Weitere Informationen über das Projekt finden Sie hier.