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Internationales Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund

Erinnern – inklusiv: „Geschichte zum Anfassen“ begeistert in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg nicht nur Jugendliche mit Behinderung

Geschichte zum Anfassen“ bietet die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg in Bayern schon seit 2012 – und das ursprünglich inklusiv angelegte Bildungsprogramm hat so viel Zuspruch gefunden, dass das didaktische Konzept längst auch für weitere Zielgruppen genutzt wird. Dies berichteten Lisa Herbst und Matthias Rittner, wissenschaftlich Mitarbeitende der KZ-Gedenkstätte, im Online-Meeting am Donnerstag, 4. Mai 2023, ihren rund 40 Zuhörenden im Rahmen des Projekts „Erinnern – inklusiv“.

Das Konzentrationslager Flossenbürg, auf halber Strecke zwischen Nürnberg und Prag gelegen, war von 1938 bis 1945 ein Arbeitslager hauptsächlich für Menschen, die von den Nationalsozialisten als „Berufsverbrecher“ und „Asoziale“ bezeichnet und zur Zwangsarbeit verpflichtet wurden. Die Häftlinge mussten Schwerstarbeit leisten in den Steinbrüchen und Granit abbauen für die Machtgebäude der Nationalsozialisten. Von den etwa 100.000 Inhaftierten kam etwa jeder dritte zu Tode.

Von der Vergangenheit des Ortes ist heute aber nicht mehr viel zu sehen, berichtete Matthias Rittner. Denn in der Nachkriegszeit wurden viele Baracken abgerissen, um für Neubauten Platz zu machen. Bis auf wenige Wachtürme und das Gebäude der früheren Kommandantur ist so gut wie nichts mehr erhalten. Erst in den 1990er Jahren entstand die Idee, eine Gedenkstätte zu errichten. Nur einige längliche Betonpfeiler im Boden zeigen heute, wo einmal die Baracken standen. „Es ist für alle Jugendlichen herausfordernd zu verstehen, was hier einmal passiert ist, wir müssen dieses Gelände erst lesbar machen“, schilderte Lisa Herbst.

2012 entstand die Idee, eine Führung in Leichter Sprache zu ermöglichen und mit einem Objektkoffer zu arbeiten. Lisa Herbst und Matthias Rittner präsentierten beispielhaft vier Objekte: Einen Löffel, einen Schuh, einen Isolator und einen Stein. Eine Firma, die für Filmproduktionen Reproduktionen herstellt, wurde beauftragt, die erhaltenen historischen Fundstücke täuschend echt nachzubilden. Seither ist Anfassen erwünscht. Jugendliche können nun zum Beispiel einen harten Lederschuh mit einer Holzsohle in die Hand nehmen und wortwörtlich begreifen. Sie können überlegen, ob er den Häftlingen überhaupt passte und Schutz bot bei der anstrengenden und gefährlichen Arbeit im Steinbruch. „Wir möchten die Assoziationen der Betrachtenden wecken und damit zum entdeckenden Lernen anregen“, schilderte Lisa Herbst. Der Isolator, wichtiger Bestandteil des unter Strom gesetzten Lagerzauns, führt häufig zu Fragen, zum Beispiel, warum bestimmte Personengruppen an diesem Ort gefangen gehalten wurden und wie manchen trotz der schwierigen Umstände doch die Flucht gelang. Der Löffel steht für die karge Ernährung, der schwere Stein für die harte Arbeit, zu der die Häftlinge gezwungen wurden. „Dies alles schafft eine Verbindung zu der Zeit vor 80 Jahren“, schilderte Matthias Rittner.

Ausgehend von diesen Objekten können sich Jugendliche selbst die Gedenkstätte und die verschiedenen historischen Aspekte erarbeiten. Teamerinnen und Teamer unterstützen die Jugendlichen auf ihrem Weg, erklären nicht nur wortreich, sondern auch mit der Hilfe von Piktogrammkarten die historischen Fakten. Am Ende sollen die Jugendlichen selbst in der Lage sein, über „ihren“ Gegenstand etwas zu berichten. Wie tief sie in das Thema einsteigen, wie schnell sie sich Biografien oder historische Fakten erschließen und wie viele der grausamen Details sie sich und den anderen zumuten, ist ihnen dabei selbst überlassen. Die Teamerinnen und Teamer assistieren, leiten zu Fundstücken, ergänzen Fakten und aufschlussreiche Anekdoten, wie die über heimlich angefertigte Zeichnungen, die später entdeckt einen Einblick in den Lageralltag gaben oder warum die knochenharten Schuhe unter den Häftlingen so begehrt waren, dass sie gestohlen wurden.
Ein Arbeitsheft unterstützt das forschende Lernen in der Gedenkstätte. Zeichnungen verdeutlichen historische Fakten, QR-Codes führen zu Audio-Dateien und freie Flächen ermuntern dazu, die eigenen Gedanken festzuhalten. „Was unser Programm ausmacht, ist die Motivation zum selbstständigen Lernen“, berichtete Lisa Herbst. Das Programm vermittle verschiedene Anregungen, einen eigenen Einstieg in die Geschichte zu finden und dem Faden zu folgen.

Schon nach den ersten Durchläufen mit Menschen mit Behinderungen schauten Jugendliche und Lehrkräfte aus Regelschulklassen neugierig herüber: Die Arbeit mit Objekten fanden auch sie interessanter als die klassische Führung. So entstand aus dem Konzept für Menschen mit Behinderungen heraus eine komplexere Version 2.0.

Und weil die Geschichte des Ortes viele grausame Details enthält, die Besucherinnen und Besucher emotional belastet, wagte das Team 2015 den Schritt, ergänzend einen Tanzworkshop anzubieten. Unterstützt von einem Tanzpädagogen aus München wurden zunächst deutsch-tschechische Begegnungen um eine tänzerische Verarbeitung des Erfahrenen ergänzt. Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit Behinderungen beschäftigen sich zunächst im eigenen Tempo mit dem Gedenkort und verarbeiten ihre Eindrücke dann in Bewegungen zu einer Choreografie. Das Ergebnis wurde dann auch im inklusiven Museumscafé präsentiert in einer anrührenden Präsentation, wie Lisa Herbst schilderte. Ganz nebenbei seien bleibende Kontakte zwischen den Teilnehmenden geknüpft worden.

In der anschließenden Diskussion interessierte es die rund 40 Teilnehmenden, welche Voraussetzungen das Programm begünstigt hatten und ob es bereits einen Austausch unter Gedenkstätten gibt über inklusive Projekte. Flossenbürg profitiere von den geringen Besucherzahlen, erfuhren die Zuhörenden. Denn Jugendgruppen können sich dadurch intensiv und in Ruhe mit der Ausstellung beschäftigen. Auch für die Museumspädagogen seien Zeit, Geduld und auch Geldmittel wichtige Voraussetzungen gewesen.

Darüber hinaus wurde auch die Frage angeschnitten, ob Menschen mit Behinderungen die Grausamkeiten der NS-Zeit zugemutet werden können. „Besucherinnen und Besucher mit Behinderungen kommen manchmal zu dem Punkt, dass sie überlegen, dass sie damals vermutlich selbst zu den Verfolgten gehört hätten – und manche ziehen auch Parallelen zu heute und zur Ausgrenzung, die sie im Alltag selbst erfahren“, schilderte Matthias Rittner. „Am Ende des Seminars hören wir häufig auch: Danke, dass Ihr mit uns darüber gesprochen habt.“ Denn viele spürten auch einen „Graubereich“ in der Geschichte, den Eltern wie Lehrkräfte lieber nicht ansprechen. Das Schweigen jedoch wecke bei den Betroffenen erst recht das mulmige Gefühl, dass ihnen etwas Bedrohliches erspart werden soll.

Das deutsch-polnische Partnerschaftsprojekt „Erinnern-inklusiv“ organisiert die IBB gGmbH in Dortmund gemeinsam mit dem Museum Stutthof in Polen und dem Verein Schwarzenberg e.V. in Berlin. Das Projekt wird im Rahmen des EU-Programms „Bürger, Gleichberechtigung, Rechte und Werte“ gefördert.

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Alle Beiträge über das Projekt „Erinnern-inklusiv“ finden Sie hier.