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Internationales Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund

Seminar „Krieg, Flucht und die Folgen“ verdeutlicht: Jedes Verhalten eines Kindes hat einen guten Grund

Praktische Hilfestellungen für eine bessere Kommunikation mit Kindern und Jugendlichen vermittelte das Online-Seminar „Krieg, Flucht und die Folgen – Kommunikationsstrategien für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in der Bildungsarbeit“, das das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk e.V. am 18. August 2022 im Rahmen des Projektes fokus4 angeboten hatte. 16 Fachkräfte aus Nordrhein-Westfalen sowie aus Neumünster und Kiel nutzten den Input von Referentin Sarah Saf und die Gelegenheit zum fachübergreifenden Austausch, wie Kommunikation mit (neu) zugewanderten Kindern und Jugendlichen besser gelingt.

Zur Einführung gab Referentin Sarah Saf, Trainerin für interkulturelle Kommunikation, einen Überblick über soziale und psychologische Faktoren von Flucht. So ist einer Studie der Universität Erlangen aus dem Jahr 2018 zufolge etwa jede (r) dritte Geflüchtete aus Syrien psychisch erkrankt. Drei von vier Geflüchteten haben selbst Traumatisches erlebt oder miterlebt, jede (r) zehnte weist Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung auf, etwa jede (r) achte leidet an einer moderaten bis schweren Depression.

Wichtig war der Referentin auch eine Begriffsklärung: Eine posttraumatische Belastungsstörung entsteht entsprechend dem internationalen Code für Krankheiten und Gesundheitsprobleme ICD-11 durch ein „extrem bedrohliches oder entsetzliches Ereignis oder eine Reihe von Ereignissen“, eine komplexe PTBS, wenn bei dem Erlebten eine Flucht schwierig oder unmöglich war. Die posttraumatische Belastungsstörung sei gekennzeichnet durch ein Wiedererleben in Flashbacks oder Albträumen, durch eine Vermeidung einer Erinnerung an die Ereignisse und teilweise auch die andauernde Wahrnehmung erhöhter gegenwärtiger Gefahr.

Erinnerungen an das traumatische Erlebnis würden häufig geweckt durch scheinbar zufällige Auslöser („Trigger“). Dies könne ein Klang oder ein Geruch sein, sprich eine Erinnerung, die individuell für den Betroffenen eng mit dem belastenden Erlebnis verbunden. Sarah Saf machte ihren Zuhörenden Mut: „Da der Trigger eine individuelle Verknüpfung von Erinnerung und Auslöser ist, kann ich nicht wissen, was der Trigger ist.“ Wenn eine belastende Erinnerung ausgelöst werde, gelte es, das Kind unterstützend aufzufangen und zu stabilisieren.
Traumatisierungen im Kindesalter ziehen in der Regel schwerwiegende Kurz- und Langzeitfolgen nach sich, die häufig an einer Verhaltensänderung erkennbar ist: So können Heranwachsende entweder teilnahmslos oder deprimiert wirken, oder im Gegenteil sehr hyperaktiv oder sogar tyrannisch kontrollierend. Als Reaktion auf die erlebte unkontrollierbare Situation, die das Trauma ausgelöst hat, werden dann zum Beispiel Eltern kommandiert. Zu den Symptomen zählen entsprechend entweder Antriebslosigkeit bis hin zu Lähmungserscheinungen, plötzliches Einschlafen oder Ohnmachtsanfälle, Verspannungen, Schmerzen, Konzentrationsstörungen, eine Verzerrung der Wahrnehmung von Raum und Zeit oder auch Einkoten oder Einnässen.

Sarah Saf empfahl ihren Zuhörenden, grundsätzlich davon auszugehen, dass jedes Verhalten eines Kindes einen guten Grund hat. Kein Kind verhalte sich absichtlich unangepasst, um einen Erwachsenen zu ärgern. Vielmehr teile das Kind mit seinem Verhalten etwas über sich und seine Geschichte mit. Sie vermittelte auch eine Reihe von praktischen Übungen zur „Erdung“, sprich zum Zurückholen aus der belastenden Erinnerung in die Gegenwart. Bewegung und sportliche Aktivitäten hätten sich zudem zum Spannungsabbau bewährt. Struktur, Klarheit und wiederkehrende Rituale könnten betroffenen Kindern und Jugendlichen zusätzlich Halt geben.

In Gruppenarbeit diskutierten die Teilnehmenden dann zwei Fallbeispiele, die Teilnehmende anonymisiert eingebracht hatten. So schilderte eine Lehrerin das Problem mit einer Familie mit zwei Kindern im Alter von 11 und 15 Jahren, die sich nicht motivieren lassen, deutsch zu lernen und überwiegend passiv am Unterricht teilnehmen und teilweise stören. Ihr hartnäckig vorgebrachtes Argument: Deutsch zu lernen sei für sie nicht nötig, da sie ohnehin in Kürze zurückkehren in die Ukraine. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer fühlten sich erinnert an die Fehler der 1970er Jahre, als die so genannten „Gastarbeiter“ kaum integriert wurden, weil man irrtümlich die Rückkehr-Absicht der Zugewanderten unterstellte. In der Gruppendiskussion entstand die Idee, den Eltern die Chancen des Zweitsprachenerwerbs als Schlüssel zur besseren Integration deutlich zu machen. Den Kindern solle die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr nicht genommen werden.

In einem zweiten Fall beschrieb eine Lehrkraft eine teilnahmslos wirkende Schülerin, die häufig nach Unterrichtsschluss herumtrödelt und mit scheinbar belanglosen Themen den engen Kontakt zur Lehrkraft sucht – ärgerlicherweise besonders auch dann, wenn Pausenaufsichten schnelle Raumwechsel erfordern. Auch für dieses Verhalten suchte die Gruppe auf der Basis der neu gewonnenen Informationen konstruktive Lösungsansätze. Offenbar signalisiere das Kind hier einen Kommunikationsbedarf, der entweder mit der Lehrkraft in der Pause abgedeckt werden könnte oder eventuell durch eine neu zu gründende AG.

Grundsätzlich beklagten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die in Schulen sowie kirchlichen und städtischen Beratungsstellen mit zugewanderten Kindern und Jugendlichen arbeiten, dass häufig die Zeit und das Hintergrundwissen für zielführende pädagogische Interventionen fehlt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dankten daher für das Seminar und äußerten daher den Wunsch nach weiteren Fortbildungen zum Thema.

Die Online-Fortbildung im Rahmen des Projekts fokus4 wurde finanziell gefördert durch den europäischen Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF).