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Internationales Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund

Virtuelle Konferenzen zum Auftakt des neuen EU-Projekts „Erinnern-inklusiv“ / „Remembrance-inclusive“

Virtuelle Konferenzen zum Auftakt des neuen EU-Projekts „Erinnern-inklusiv“ / „Remembrance-inclusive“

Mal sind die Texte zu hoch angebracht, um von Menschen gelesen zu werden, die sich mit einem Rollstuhl fortbewegen müssen. Mal sind Texte in alter Handschrift geschrieben. Mal sind ausgestellte Fotos kontrastarm und kaum größer als eine Streichholzschachtel. Selbst Menschen mit gutem Sehvermögen finden in Gedenkstätten und Museen, die an die Opfer der NS-Zeit erinnern, nicht recht Zugang. „Wir müssen uns alle einmal fragen: Was verstehen wir? Und was verstehen wir nicht?” Zu einer fragenden Herangehensweise an Lernorte der Erinnerung aus einer möglichst subjektiven Perspektiven rief Professorin Dr. Meike Günther in ihrem Input bei dem Auftakttreffen zum neuen EU-Projekt Erinnern-inklusiv / Remembrance – inclusive am Dienstag, 7. März 2023, auf. Denn:

“Wir leben in einer radikal exklusiven Gesellschaft!”

Viele scheinbar gute Ideen zur Inklusion gehen ihrer Erfahrung nach an der Realität von Betroffenen vorbei, sagte Professorin Dr. Meike Günther. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Institut für Menschenrechte berät sie seit mehr als zehn Jahren NS-Gedenkstätten zur inklusiven Bildungsarbeit. Die Wahrnehmung der eigenen Grenzen und des eigenen Scheiterns halte sie daher für ebenso wichtig wie die Sensibilisierung für die unterschiedlichen deutschen und polnischen Perspektiven auf die Erinnerung der NS-Vergangenheit und das Ziel der Inklusion.

Constanze Stoll, Referentin für internationale historische Bildungsarbeit, und Dr. Kordian Kuczma von der Gedenkstätte Stutthof in Polen, hatten, leider ohne Annika Hirsekorn vom Verein Schwarzenberg e.V, in zwei Online-Sessions jeweils eine vielfältige Gruppe von Interessierten aus Deutschland und Polen begrüßt: Menschen mit und ohne Behinderung oder Beeinträchtigung, die als Betroffene, als Eltern, als Lehrkräfte, als Mitarbeitende in Gedenkstätten oder als Studierende an einer inklusiven Erinnerungsarbeit interessiert sind. Das internationale Projekt bietet die Möglichkeit, in enger Zusammenarbeit Lösungsvorschläge zu entwickeln, die beispielhaft im Museum Stutthof erprobt werden und die später auf andere Gedenkstätten angewendet werden können. Vor allem Gedenkstättenfahrten zu Orten der NS-Geschichte sollen für Zielgruppen erschlossen werden, die bisher solche Angebote nicht wahrnehmen können.

Die Gedenkstätte Stutthof war das erste Konzentrationslager, das die Nationalsozialisten bereits im Sommer 1939 geplant und am 2. September 1939, am Tag nach dem Überfall auf Polen, eröffnet hatten. Die ersten Häftlinge waren Polen aus der Umgebung, berichtete Dr. Danuta Drywa, Leiterin der Dokumentationsabteilung der Gedenkstätte Stutthof: Lehrkräfte, Geistliche, Intellektuelle. Später wurden auch norwegische Soldaten, sowie Juden aus Österreich, Ungarn, Lettland und Litauen und nach Stutthof verschleppt. Von den insgesamt rund 110.000 Häftlingen überlebte vermutlich nicht einmal die Hälfte. Die Geschichte dieses Ortes wird heute im Museum Stutthof erzählt. Das Areal ist frei zugänglich und wird besonders im Sommer von einigen hundert Menschen täglich besucht.

Das staatliche Museum ist in den vergangenen Jahren schon erste Schritte in Richtung Inklusion gegangen, machte Ewa Malinowska in ihrem Vortrag deutlich. Die Leiterin der Bildungsabteilung für den insgesamt rund 20 Hektar großen Lernort berichtete, dass die  Gedenkstätte mit Ausnahme der früheren Kommandantur überwiegend ebenerdig angelegt ist. Für Menschen, die mit dem Rollstuhl unterwegs sind, wurden Rampen angelegt. Behindertenparkplätze stehen zur Verfügung. Es gibt bereits Texttafeln in einfacher Sprache und Audio-Führungen. Besonders hob sie ein Lehrbuch in einfacher Sprache hervor. Mehr sei wünschenswert und möglich. Die Umsetzung gesetzlicher Vorgaben und darüber hinausgehender Ergänzungen sei für das kleine Team der Gedenkstätte nicht einfach. “Wir wissen, dass ein Drittel der Schülerinnen und Schüler Unterstützung und Förderung benötigen.” Entsprechend hoch dürfte also auch die Zahl in der gesamten Gesellschaft sein. Große Hoffnungen ruhen daher auch von Seiten der polnischen Projektpartner auf den Ergebnissen des internationalen Kooperationsprojektes.

Gedenkstättenfahrten von Jugendgruppen aus Deutschland zum Beispiel zum Lernort Stutthof erreichen allerdings nur in geringem Maße Jugendliche mit einer Behinderung oder Beeinträchtigung. Dies, so eine Vermutung aus dem Kreis der Teilnehmenden, könne am intensiven Bildungsprogramm liegen. Die Förderrichtlinien des Kinder- und Jugendplans des Bundes zum Beispiel sehen sechs Stunden intensive Beschäftigung mit der NS-Geschichte pro Tag vor. Diese Intensität könne Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen oder anderen Behinderungen überfordern.

Tandem-Führungen liefern auch Feedback

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nahmen die Impulse aus den Vorträgen auf und berichteten auch von eigenen Erfahrungen: So gibt es in der Gedenkstätte Grafeneck in Brandenburg sogenannte Tandem-Führungen von jeweils einem Menschen mit und einem ohne Behinderung. Diese Führungen würden häufig auch Verbesserungsbedarfe deutlich machen.

In Gruppenarbeit entwickelten Teilnehmende schon erste Ideen: So könnten zum Beispiel selbst Betroffene Führungen entwickeln für ihre jeweilige Community. „Es könnten zum Beispiel speziell ausgewählte Exponate intensiver bearbeitet werden und weniger geeignete ausgelassen werden”, schilderte eine der Teilnehmerinnen.

Wichtig sei denn auch eine intensive und offene Kommunikation zwischen verschiedenen Abteilungen eines Lern- und Gedenkortes, um immer wieder private Erfahrungen und professionelle Expertise zusammenzuführen.

Nicht immer wird die Umgestaltung professionell begleitet und dokumentiert, wie in der Gedenkstätte “Haus der Wannsee-Konferenz” in Berlin. Sie hat die dritte Dauerausstellung im Jahr 2021 inklusiv angelegt dem Konzept “Design für alle” folgend. Die Überlegungen, die zur Umgestaltung führten, sind in einer Publikation festgehalten.

„Der Austausch war jetzt schon ein Gewinn”,

sagte eine Teilnehmerin am Ende.

Zum nächsten Termin können sich Interessierte wieder über ein Formular registrieren, das auf dieser Seite veröffentlicht wird. Eingeladen sind alle Interessierten, unabhängig von einer Teilnahme am Auftakttreffen oder an weiteren Terminen.

Das deutsch-polnische Partnerschaftsprojekt wird gemeinsam mit dem Museum Stutthof in Polen und dem Verein Schwarzenberg e.V. in Berlin umgesetzt und im Rahmen des EU-Programms „Bürger, Gleichberechtigung, Rechte und Werte“ gefördert.

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Unser Foto oben zeigt Ewa Malinowska von der Gedenkstätte Stutthof bei der Präsentation der Gedenkstätte Stutthof. (Screenshot)

Den Link zur Anmeldung finden Sie (in Kürze) hier.

Weitere Informationen über das Projekt erfahren Sie hier.