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Internationales Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund

Was denkt der Pott über Europa? – die Europa-Kolumne – Auftakt

Was denkt der Pott über Europa? – die Europa-Kolumne – Auftakt

IBB e.V. arbeitet immer daran Grenzen zu überwinden. Mit unserer neuen Europa-Kolumne reagieren wir darauf, dass innerhalb der Europäischen Union wieder Grenzen errichtet werden und das Friedensprojekt EU von vielen Menschen in Frage gestellt wird.

Seit September erzählen wir Geschichten von Menschen, die ihre Alltagserfahrungen in und mit Europa beschreiben. Die zum Nachdenken darüber anregen, was europäische Zusammenarbeit für jede/n von uns an Positivem bereithält.

Europa ist vor unserer Haustür – wir müssen es nur wahrnehmen.

Dortmund ist eine „Europaaktive Kommune“, daher stehen hinter der Kolumne neben dem IBB auch die Auslandsgesellschaft NRW, der Jugendring Dortmund und die Stadt Dortmund.
Die Europa-Kolumne erscheint im Rahmen einer Medienpartnerschaft monatlich im coolibri, dem bekannten Stadtmagazin und anschließend auf unserer Website.

Wir bedenken uns bei allen Interviewpartnern, die ihre Geschichten schon erzählt haben oder noch erzählen werden und der Autorin der Kolumne, Chantal Stauder.


„Ich fühle mich von Großbritannien verlassen“
John Brogden und der Brexit

1973 ist das Jahr, in dem Großbritannien der EU beitritt. Im selben Jahr siedelt ein junger Brite wegen seiner ersten Frau – einer Deutschen – aufs europäische Festland über. Damit wird John Brogden aus Whitefield bei Manchester einer der ersten Briten, die die Freizügigkeit als EU-Bürger genießen können. 43 Jahre später beschließt eine knappe Mehrheit der Briten den Ausstieg aus der EU. Der Brexit hat John den Anstoß gegeben, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen.

Metallschild auf einer Kamera: John versteht sich als Europäer und Dortmunder.

Metallschild auf einer Kamera: John versteht sich als Europäer und Dortmunder. Foto: Chantal Stauder

Gold, glänzend, wertig schimmert die Aufschrift „John Brogden, hand-made large-format cameras, Dortmund, Germany“ in Großbuchstaben auf den kleinen, ovalen Metallschildern, die seit kurzem die handgemachten Kameras des Wahldortmunders zieren. Der Europäer der ersten Stunde lebt heute mit seiner zweiten Frau Odile in Dortmund. Sie kommt aus Frankreich. Beide arbeiten im Ruhrgebiet als Übersetzer.

Bis sich John als Übersetzer in Dortmund selbstständig macht, arbeitet er in einem Übersetzungsbüro in Düsseldorf. In der Landeshauptstadt kommt er in Kontakt mit Kunst, Kultur und Fotografie, für die er sich bis heute begeistert. Er lernt den Mechanismus von analogen Kameras verstehen und beginnt selbst aufwendige Großformatkameras zu bauen. Heute vertreibt er sie explizit als lokales Dortmunder Produkt.

Ode an die Freude

Wenn der höfliche, fröhliche Brite an Europa denkt, fällt ihm das Gefühl des Mittendrin-Seins und die Melodie von Ludwig van Beethovens Sinfonie „Ode an die Freude“ ein. John strahlt und sagt: „Ich lebe sehr gerne in Deutschland. Seit Jahren wollte ich die deutsche Staatsangehörigkeit beantragen, aber bisher gab es keinen dringenden Grund dafür. Seit dem Brexit fühle ich mich hier auf dem Kontinent als Brite verlassen und als überzeugter Europäer irgendwie staatenlos.“ John weiß, dass er Glück hat: Briten, die weniger als acht Jahre in Deutschland sind, dürfen die deutsche Staatsbürgerschaft noch nicht beantragen.

Der heute 75-Jährige wird während des Zweiten Weltkriegs geboren und studiert Germanistik und Französisch in Leeds. Seine Arbeit nach dem Studium bringt ihn wieder in Kontakt mit dem Ausland: John ist für eine Firma, die Sandstrahlkabinen herstellt, erst als Auslandskorrespondent, dann als Exportleiter zuständig. Im Zuge dessen vertritt er seinen Arbeitgeber auf Industriemessen – vor allem in Deutschland und Österreich.

Immer noch von der europäischen Idee überzeugt

Auf dem Kopf: John zeigt den Mechanismus seiner Kameras

Auf dem Kopf: John zeigt den Mechanismus seiner Kameras. Foto: Chantal Stauder

Während des Studiums geht er für ein Auslandssemester nach Göttingen, wo er seine erste Frau kennenlernt. Nachdem die beiden neun Jahre in Leeds verbringen, siedeln sie 1973 nach Deutschland über. Johns Zeit als Europäer beginnt. Er ist begeistert: Regierungen kooperieren, damit Menschen ohne Grenzkontrolle verreisen können. Wer verschiedene europäische Länder durchqueren will, muss sich nicht mehr in jedem neuen Staat die örtliche Währung beschaffen. Nationale Grenzen treten in den Hintergrund. Teure Zölle auf eingeführte Waren aus anderen Ländern entfallen. Händler können Produkte günstiger anbieten.

Der Deutsch-Brite ist auch nach 43 Jahren immer noch von der europäischen Idee überzeugt: „Ich halte Brexit für einen politischen, sozialen und kulturellen Selbstmord.“ Er kann aber auch jene verstehen, die wütend sind, wenn sie sehen, dass ihr Arbeitgeber ihnen kündigt, um Arbeit in Länder auszulagern, in denen sie Mitarbeitern weniger Gehalt zahlen können.

Europa kann vom Ruhrgebiet lernen

John denkt auch an einige Verwandte, von denen er vermutet, dass sie für den Brexit gestimmt haben. Ihnen wird nur langsam bewusst, welche Folgen der Austritt für sie haben wird. Der Dortmunder sagt: „Die Briten erfahren zu wenig von den Vorteilen, die ihnen die EU gebracht hat. Die EU bräuchte eine Art Werbeagentur, die Werbung für sie macht.“ Der 75-Jährige glaubt auch, dass britische Politiker Europa nicht verstanden haben: „Sie sprechen nicht von Kooperation, sondern immer von der führenden Rolle, die Großbritannien in Europa übernehmen soll.“ Durch den Austritt aus der EU werden viele Produkte in Großbritannien teurer werden, weil sie nicht im eigenen Land hergestellt, sondern aus anderen importiert werden müssen. Johns Enthusiasmus für Europa ist ähnlich groß wie seine Begeisterung für das Ruhrgebiet. Er findet: „Dem Ruhrgebiet gelingt etwas, das Europa noch lernen muss: Erfolgreiche Integration.“

Chantal Stauder