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Internationales Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund

Belarus erinnert an den 75. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Osaritschi

Belarus erinnert an den 75. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Osaritschi

In der Nationalbibliothek in Minsk erinnerten Zeitzeugen, Diplomaten sowie Historiker und Akteure der Erinnerungskultur aus Belarus und Deutschland am Montag, 18. März 2019, an die Befreiung des Vernichtungslagers Osaritschi vor 75 Jahren. Im März 1944 hatte die neunte Armee der Wehrmacht in diesem Todeslager 9.000 bis 13.000 Menschen qualvoll sterben lassen.

Das Publikum in der Nationalbibliothek in Minsk.

„Die Ereignisse bei Osaritschi gelten heute als eines der schwersten Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht in Belarus“, sagte Professor Dr. Christoph Rass, Historiker an der Universität Osnabrück. Er hatte Ende der 1990er Jahre begonnen, die Geschichte des Todeslagers zu erforschen. Die deutschen Besatzer hatten dort einen Monat vor ihrem Rückzug aus Belarus geschwächte und an Typhus erkrankte Kinder und Erwachsene schutzlos zusammengepfercht wissend und in Kauf nehmend, dass sie ohne Nahrung und Medikamente keine Chance zum Überleben haben. Ihr zynischer Plan: Die Rote Armee sollte auf ihrem Vormarsch durch die humanitäre Katastrophe abgelenkt und aufgehalten werden. Die Soldaten sollten mit Krankheiten wie Typhus angesteckt werden.

Bei der Befreiung des Lagers am 19. März 1944 konnte die Zahl der Toten mit 9.000 bis 13.000 lediglich geschätzt werden. Unter den Überlebenden waren mehr als 15.000 teilweise schwer erkrankte Kinder unter 13 Jahren. Sowjetische Armeefotografen hatten das Leid in dramatischen Aufnahmen festgehalten, die sich tief in das kulturelle Gedächtnis eingeprägt haben.

Das historische Schwarz-Weiß-Foto zeigt ein Kind, das schüchtern und glücklich in die Kamera lächelt. Aufgenommen wurde das Foto von sowjetische Armee-Fotografen. Sie hatten die Überlebenden des Todeslagers Osaritschi fotografiert.

Sowjetische Armee-Fotografen hatten die Überlebenden des Todeslagers Osaritschi fotografiert. Dieses Foto vom 19. März 1944 zeigt Vera Kuryan aus der Region Poljesse. Ihre Verwandten starben im Lager. Foto: Alperin Nr. 46307/5

Erweiterung der Wanderausstellung „Vernichtungsort Malyj Trostenez. Geschichte und Erinnerung“

„Es ist uns ein wichtiges Anliegen, das Wissen um die Vernichtungsorte in Belarus in der europäischen Erinnerung zu verankern“, sagte Dr. Astrid Sahm, Geschäftsführerin der IBB gGmbH Dortmund. Die Wanderausstellung „Vernichtungsort Malyj Trostenez. Geschichte und Erinnerung“, die zur Zeit noch in der Nationalbibliothek in Minsk zu sehen ist, wurde aus Anlass des 75. Jahrestages um zwei Ausstellungs-Module zu den Ereignissen in Osaritschi in belarussischer und deutscher Sprache ergänzt. Ein drittes Modul war erstmals für die Ausstellung in der norddeutschen Kleinstadt Lüneburg ab Oktober 2018 erstellt worden und wird nun auch an allen weiteren Ausstellungsorten in Belarus und Deutschland gezeigt. In Lüneburg war die 110. Infanterie-Division als Teil der 9. Armee der deutschen Wehrmacht stationiert, die für die Kriegsverbrechen mitverantwortlich gemacht wird. Zeitzeugenbesuche hatten das Ausmaß der Tragödie von Osaritschi schon vor einigen Jahren in das Bewusstsein der Kleinstadt gebracht und eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Ortsgeschichte angestoßen.

Dieses Foto zeigt etwa 60 ältere Menschen vor einem Gedenkstein, der an das Todeslager Osaritschi erinnert. Die Erinnerung an das Todeslager Osaritschi ist unter anderem mit diesem Foto nun Teil der Wanderausstellung "Vernichtungsort Malyj Trostenez. Geschichte und Erinnerung". Das Denkmal wurde erst 194 errichtet. Das Foto entstand bei einem Treffen ehemaliger Häftlinge am 3. Juli 1997. Foto: Museum des Großen Vaterländischen Krieges Minsk

Die Erinnerung an das Todeslager Osaritschi ist unter anderem mit diesem Foto nun Teil der Wanderausstellung „Vernichtungsort Malyj Trostenez. Geschichte und Erinnerung“. Das Denkmal wurde erst 1994 errichtet. Dieses Foto entstand bei einem Treffen ehemaliger Häftlinge am 3. Juli 1997. Foto: Museum des Großen Vaterländischen Krieges Minsk

Die beiden anderen Ausstellungswände, die nur in Belarus gezeigt werden, erinnern mit historischen Fotos und Dokumenten an die Überlebenden des Todeslagers Walentina Schischlo (*1936) und Arkadij Schkuran (*1934). Beide waren bei der Gedenkfeier anwesend.

Arkadij Schkuran war als Kind im Todeslager von Osaritschi interniert. Seine Erinnerungen sind im Buch „Poljesse: Tragödie und Erinnerung“ enthalten, das er gemeinsam mit Michail Sinkevich veröffentlicht hat.

Neues Buch präsentiert: „Poljesse: Tragödie und Erinnerung“

Das Buch „Poljesse: Tragödie und Erinnerung“.

Die Gedenkstunde zum 75. Jahrestag der Befreiung des Todeslagers von Osaritschi hatte die Internationale Bildungs- und Begegnungsstätte „Johannes Rau“ in Kooperation mit der Nichtregierungsorganisation „Verständigung“ organisiert – eine Partnerorganisation der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft. Dr. Viktor Balakirev, Direktor der IBB „Johannes Rau“, hatte in einer Pressekonferenz am Mittag betont, dass die Bewahrung der Erinnerung und die Forschung an den dunklen Flecken der Erinnerung ein wichtiger Teil der Arbeit ist und bleibt. Im Beisein von Überlebenden und Zeitzeugen wurde in der Gedenkstunde am Nachmittag in der Nationalbibliothek Minsk zudem das neue Buch „Poljesse: Trägödie und Erinnerung“ vorgestellt, das der Historiker Michail Sinkevich gemeinsam mit dem Osaritischi-Häftling Arkadij Schkuran herausgegeben hat. Der Druck der Dokumentation wurde durch die Deutsche Botschaft in Minsk und die Nichtregierungsorganisation „Verständigung“ ermöglicht. Botschafter Peter Dettmar bemerkte in seiner Ansprache, dass sich in Deutschland erst langsam ein Bewusstsein für die durch den Krieg und die deutschen Besatzer in Belarus verursachten Leiden entwickele. Das Buch sei ein wichtiger Beitrag, um an die Opfer zu erinnern und aus der Geschichte  zu lernen. Dr. Alexander Dalhouski, stellvertretender Leiter der Geschichtswerkstatt „Leonid Lewin“ Minsk, führte anschließend kenntnisreich durch die Ausstellung.

Das Foto zeigt einen Blick von oben auf die Wanderausstellung "Vernichtungsort Malyj Trostenez. Geschichte und Erinnerung". Sie ist noch bis Ende März in der Nationalbibliothek in Minsk zu sehen. Foto: Geschichtswerkstatt "Leonid Lewin" Minsk

Die Wanderausstellung „Vernichtungsort Malyj Trostenez. Geschichte und Erinnerung“ ist noch bis zum 31. März in der Nationalbibliothek in Minsk zu sehen. Foto: Geschichtswerkstatt „Leonid Lewin“ Minsk

Gedenkveranstaltungen auch am authentischen Ort

Die Gedenkveranstaltungen in Belarus zur Erinnerung an das Todeslager Osaritschi dauerten insgesamt drei Tage. Am 18. März wurde die Ausstellung um die Osaritschi-Module erweitert und das neue Buch vorgestellt.

Ein Denkmal erinnert seit einigen Jahren an das Todeslager von Osaritschi. Es war am 75. Jahrestag der Befreiung Ziel von Überlebenden und Akteuren der Erinnerungskultur. Foto: Geschichtswerkstatt „Leonid Lewin“ Minsk

Am 19. März wurde der Tragödie am authentischen Ort – etwa 150 Kilometer südöstlich von Minsk – im Beisein von etwa 200 Überlebenden gedacht. Mehrere der betagten Zeitzeugen ergriffen das Wort, um über ihre Erlebnisse zu berichten oder ihrer toten Angehörigen zu gedenken. Einige trugen selbstverfasste Gedichte vor. Am 20. März fand die Vorführung des Dokumentarfilms „Osaritschi 1944“ und eine anschließende Diskussion mit dem Regisseur Prof. Dr. Christoph Rass im Museum des Großen Vaterländischen Kriegs statt.

„Es können Brücken gebaut werden“

Adam Kerpel-Fronius, Historiker der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, referierte in der Nationalbibliothek. Foto: IBB „Johannes Rau“ Minsk

Die Wanderausstellung wird aktuell auch in vielen westeuropäischen Städten gezeigt und für die vielen jüngeren und älteren Besucherinnen und Besucher werde deutlich, dass es Verbindungen gibt zwischen ihren Heimatstädten und den geografisch scheinbar doch so weit entfernten Orten in Belarus. Adam Kerpel-Fronius, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden, sah darin die Chance zu einem Lernen für eine gemeinsame Zukunft in Europa: „Diese Ausstellung zeigt:  Es gibt viele Verbindungen zwischen den Städten und den beiden Ländern, so dass über die Erinnerungsprojekte Brücken gebaut werden können.“

Medien und staatliche Stellen in Belarus haben ausführlich über die Gedenkstunden zum 75. Jahrestag der Befreiung von Osaritschi berichtet.

Die Belarussische Nationalbibliothek hat die Nachrichtensendung des ersten belarussischen Fernsehens verlinkt, das unter anderem einen Beitrag über das neue Buch zum 75. Jahrestag in den Mittelpunkt stellt und auch die Ansprache des deutschen Botschafters Peter Dettmar erwähnt.

Die staatliche Zeitung „Belarus Segodnya / Belarus heute (SB)“ rückt die Bewahrung der Erinnerung und die entsprechende Forschung und Dokumentation in den Mittelpunkt ihrer Berichterstattung. Im Todeslager von Osaritschi seien Gefangene als biologische Waffen eingesetzt worden. Insgesamt seien „mindestens 20.000 Menschen“ getötet worden.

Das belarussische erste Fernsehen hat den Zeitzeugen Arkadij Schkuran sowie Adam Kerpel-Fronius interviewt.

Das Exekutivkomitee der Stadt Minsk erwähnt auf seiner Website besonders die Ermutigung an junge Menschen, neue Erkenntnisse der historischen Forschung zu diskutieren.

Einen Bericht über die Veranstaltungen zum 75. Jahrestag von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas finden Sie hier.

Die Wanderausstellung „Vernichtungsort Malyj Trostenez. Geschichte und Erinnerung“ wird im April in Gomel und Pinsk gezeigt.

Weitere Informationen über die Gedenkstätte Trostenez finden Sie hier.