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Internationales Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund

„Erinnern-inklusiv“: Gehörlose berichten – Warum Licht, Zeit und Raum wichtig sind

Wie Gehörlose den Besuch einer Gedenkstätte zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus wahrnehmen und was ihnen den Zugang zu den angebotenen Inhalten erleichtern könnte, berichtete Claudia Kermer, Dozentin für  Gebärdensprache an der Universität Magdeburg-Stendal, in der vierten Online-Veranstaltung im deutsch-polnischen Projekt „Erinnern inklusiv“ am Donnerstag, 20. April 2023.

„Die Augen sind unsere ganze Welt!”

Claudia Kermer, die aus Termingründen für Henry Niekrawietz eingesprungen war, ist wie schätzungsweise 0,01 Prozent der Weltbevölkerung seit Geburt taub. Diese Sinnesbeeinträchtigung sei keine kognitive Behinderung und mache übrigens auch nicht einsam. Vielmehr habe die Community der Gehörlosen ihre eigene, reiche Kultur, ihre eigenen Veranstaltungen, Vereine, Zeitschriften und vielfältige Möglichkeiten eines inspirierenden Austauschs.

„Viele von uns sehen uns nicht als Behinderte.“

Wir haben nicht das Gefühl, dass uns etwas fehlt!” Nur fünf Prozent der gehörlos geborenen Kinder haben auch taube Eltern. Die Mehrzahl lebt also zusammen mit Hörenden.

Ihre Muttersprache ist die deutsche Gebärdensprache, die zwar eine eigenständige und vollwertige Sprache ist, aber oftmals eher nur als Übersetzung betrachtet wird. Zuweilen irrtümlich als Zeichensprache beschrieben – die tatsächlich nur im Tauchsport verwendet wird – folge die Gebärdensprache einer eigenen Grammatik und erlaube ebenfalls eine sehr detaillierte Beschreibung von Sachverhalten – und sie unterscheidet sich von Land zu Land.

„Wir erleben, dass unsere Sprache als minderwertig angesehen wird”,

übersetzten zwei Gebärdensprach-Dolmetscherinnen in die deutsche und polnische Lautsprache. So werden immer wieder wichtige Warnhinweise, wie zum Beispiel, dass der besuchte Ausstellungsort in wenigen Minuten schließt, nur als akustische Durchsage verbreitet. Gehörlose spürten im täglichen Leben an vielen Orten Diskriminierung. Auf ihre besonderen Bedarfe gehen nur die wenigsten Einrichtungen ein.

In Museen und Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus wird die Benachteiligung besonders augenfällig. „Ich finde zum Beispiel Zeitzeugenberichte sehr interessant”, schilderte Claudia Kermer aus ihrer eigenen Erfahrung. Aber diese Berichte stehen fast immer nur als Audio-Dateien zur Verfügung, seltener als Videos. Doch deren Tonspuren werden nicht für Gehörlose in Gebärdensprache übersetzt oder wenigstens mit Untertiteln versehen.

Text ist auch (k) eine Lösung

Text ist allerdings auch nur bedingt eine Lösung: Untertitel in Videos, beschreibende Texte, die Ausstellungsstücke erläutern, oder auch andere Informationsmaterialien sind nämlich auch nicht wirklich barrierefrei konzipiert. So sind zum Beispiel Texte häufig sehr lang, kompliziert formuliert und durch Namen oder Fachbegriffe, die wiederum viel Vorwissen voraussetzen, recht schwer verständlich. Auch eine kontrastarme Darstellung zum Beispiel von farbiger Schrift auf farbigem Untergrund stelle eine Barriere dar. Denn dies erschwert die Lesbarkeit.

„Die deutsche Schriftsprache ist nicht unsere Muttersprache”,

stellte die Referentin klar. Es fehle häufig mindestens eine grafische Auflockerung oder auch eine ergänzende bildliche Erläuterung, denn: “Die Augen sind unsere ganze Welt!” Dies werde besonders auch bei Führungen deutlich: In den wenigen Fällen, in denen Führungen für Gehörlose angeboten werden, bleibt manchmal zu wenig Zeit. Denn Gehörlose können während eines Vortrags nicht den Blick schweifen lassen. Sie müssen den Erzählenden anschauen, um seinen Worten folgen zu können. Dies braucht auch Raum, damit sich zum Beispiel alle Gehörlosen in einem Halbkreis aufstellen können, um sich beim Sprechen sehen zu können. Und es braucht zusätzlich Zeit, um Fotos oder Exponate genauer betrachten zu können.

Auch die Beleuchtung erweise sich teilweise als Barriere: Spiegelungen, schummriges Licht oder gleißend helle Lichtpunkte erschweren das genaue Betrachten. Raum, Zeit und Licht seien besonders wichtig. Vor diesem Hintergrund wünschten sich viele Gehörlose eine bedarfsorientierte didaktische Aufbereitung von Ausstellungsinhalten und spezielle Angebote für Gehörlose.

Technische Hilfsmittel können neue Barrieren schaffen

Unterstützung erhielt die Referentin aus dem Kreis der Teilnehmenden: Manche Gedenkstätten und Ausstellungsorte würden heute bereits diverse technische Lösungen anbieten: Spezielle Apps fürs Smartphone, QR-Codes, die mit dem Smartphone ausgelesen werden können, oder Tablets stellen dann zum Beispiel die Inhalte einer Führung in Gebärdensprache dar. Doch auch diese Angebote schaffen teilweise neue Barrieren, statt sie zu überwinden. Mal scheitert das Laden an den technischen Möglichkeiten des jeweiligen Smartphones, mal stehen andere Ausstellungsbesucher vor oder auf dem jeweiligen QR-Code, mal sind Ältere technisch unerfahren im Umgang mit dem leihweise ausgehändigten Tablet. Auch der Besuch mit der eigenen hörenden Familie wird zu Herausforderung, schilderte eine Teilnehmerin aus Schleswig-Holstein: Um dem Dargestellten zu folgen, braucht es unterschiedliche Kommunikationstools, die ihrerseits unterschiedliche Verweildauern und Leseflüsse vor den Objekten und Bildtafeln mit sich bringen. Da reißt der gemeinsame Besuchsfluss schon mal auseinander und es entsteht eine ungewünschte Vereinzelung für die taube Ausstellungsbesucherin.

Auch in Polen, so berichtete eine Teilnehmerin, sei das Thema Inklusion sehr aktuell. Öffentliche Institutionen auch der Kunst und Kultur müssen sich entsprechend aktuellen gesetzlichen Vorgaben barrierefrei umrüsten. Doch zur Umsetzung fehle es oft an Know-how und zielführender Kommunikation mit entsprechend ausgebildeten Kontaktpersonen. Es sei noch sehr viel zu tun in diesem Bereich.

Mit der Landkarte des Nichtwissens hatte Projektreferentin Constanze Stoll  (IBB gGmbH Dortmund) in das Online-Treffen eingeführt.

Diskutiert wurde die Frage, ob spezielle Führungen zum Beispiel für Gehörlose nicht als ausgrenzend empfunden werden. Aus dem Kreis der Teilnehmenden an diesem Online-Meeting aus Deutschland und Polen wurde dies aber verneint. Es sei im Gegenteil eher hilfreich, wenn sich Erinnerungsorte genauer auf die Bedarfe von Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen einstellen und die Diversität eben durch vielfältige Angebote abbilden und zugänglich machen. Von großem Vorteil sei es, die jeweilige Community einzubeziehen und zusammen mit den Betroffenen Lösungen zu entwickeln.

Unser Foto oben zeigt die deutsche Lautsprachen-Übersetzerin, die Claudia Kermers Vortrag Gehör verschaffte.Foto: Screenshot

Beim nächsten Online-Meeting am Donnerstag, 4. Mai 2023, von 11 bis 13 Uhr, berichten Lisa Herbst und Matthias Rittner, wie sie die Inhalte der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg in Bayern mit kreativen Mitteln und Ideen inklusiv erweitert haben.
Zur Anmeldung nutzen Sie bitte diesen Link.

Beide Online-Treffen werden mit der Konferenzsoftware Zoom angeboten. Für gute Verständigung sorgen zwei Gebärdensprachdolmetscherinnen und zwei Lautsprachendolmetscher, die simultan ins Polnische übersetzen.

Das deutsch-polnische Partnerschaftsprojekt „Erinnern-inklusiv“ organisiert die IBB gGmbH gemeinsam mit dem Museum Stutthof in Polen und dem Verein Schwarzenberg e.V. in Berlin. Das Projekt wird im Rahmen des EU-Programms „Bürger, Gleichberechtigung, Rechte und Werte“ gefördert.

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Alle Informationen zum inklusiven Netzwerktreffen in Sztutowo finden Sie hier.

Alle Beiträge über das Projekt „Erinnern-inklusiv“ finden Sie hier.