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Internationales Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund

IBB-Fachtag Inklud:Mi Sucht und Flucht: Health Empowerment muss kultursensibel angelegt sein

IBB-Fachtag Inklud:Mi Sucht und Flucht: Health Empowerment muss kultursensibel angelegt sein

Wo endet Genuss und wo beginnt Sucht? Mitarbeitende in Drogenberatungsstellen beantworten diese Fragen vermutlich anders als ein Geflüchteter aus Afghanistan. „Wir können in der Präventionsarbeit mit Zugewanderten und Geflüchteten nicht unseren Wissensstand voraussetzen, sondern müssen kultursensible Angebote entwickeln“, resümierte Hildegard Azimi-Boedecker, Leiterin des Fachbereichs Beruf international und Migration, am Ende des Fachtags Inklud:Mi, zu dem das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk e. V. in Dortmund für Dienstag, 5. Juni 2018, ins Dietrich-Keuning-Haus eingeladen hatte. Die mehr als 60 Teilnehmenden – unter ihnen viele Absolventinnen und Absolventen der Fortbildungsreihe DoKuMente – informierten sich über Angebote und bekundeten Interesse an Weiterbildungen zum Thema.

Am Diversity-Tag in Dortmund widmete sich der Fachtag Inklud:Mi u.a. mit dem Vortrag von Ahmet Kimil dem Thema Sucht und Flucht und insbesondere dem vorbeugenden Gesundheitsschutz von Geflüchteten und Zugewanderten.Foto: IBB – Mechtild vom Büchel

Besonders junge Geflüchtete sind möglicherweise größeren Gefahren ausgeliefert, wenn sie nach Deutschland kommen. Traumatische Erfahrungen auf der Flucht, wenig Erfahrung mit dem leicht verfügbaren Alkohol zum Beispiel in Bier-Mischgetränken und eine andere Einstellung zu Schmerzmitteln und Drogen in ihren Herkunftsländern könnten die Hemmschwelle zur zeitweisen Betäubung in gefährlicher Weise absenken, berichtete Ahmet Kimil, Diplom-Psychologe und Betriebsleiter im Ethno-Medizinischen Zentrum e.V. Hannover. „Ein Teil bringt die Sucht mit, ein Teil erwirbt sie aber auch erst auf der Flucht“, berichtete er in Dortmund.

Die Datenlage über suchtkranke und suchtgefährdete Migrantinnen und Migranten sei insgesamt dünn, bestätigten alle Referenten einhellig. Auffällig ist auf jeden Fall der Anstieg von Abhängigen  aus den Fluchtländern Afghanistan, Iran und Irak. In der Jugendhilfe wird beobachtet, dass Migrantinnen und Migranten zum Teil überrepräsentiert sind. In der Deutschen Suchthilfestatistik wiederum seien Menschen mit Migrationshintergrund, die nach jüngsten Zahlen 18,5 der Gesamtbevölkerung stellen, mit 13,2 Prozent eher unterrepräsentiert, sagte Kimil. Die Zahlen könnten allerdings verwässert sein durch Zugangsbarrieren. „Wir können nicht auf die Forschung warten“, sagte Kimil. Suchtprobleme gebe es zwar in allen gesellschaftlichen Milieus. Das Ethno-Medizinische Zentrum habe jedoch Erfahrungsberichte ausgewertet in den drei Zielgruppen Junge Migranten, Aussiedler und Geflüchtete.

  • Während in den Milieus junger muslimischer Migrantinnen und Migranten Alkohol eher verpönt ist, sind Haschisch und Cannabis teilweise akzeptiert, obwohl beides aus religiösen Gründen eigentlich verboten ist. Problematisch wird für diese Zielgruppe nicht selten auch Spielsucht. Zugenomen habe der harte Heroinkonsum, injiziert oder zumeist oral konsumiert.
  • Unser Foto zeigt die Referentinnen und Referenten (v.l.) Andrea Piest vom Notdienst für Suchtmittelgefährdete und -abhängige Berlin e.V., Ahmed Kimil vom Ethno-Medizinischen Zentrum e.V. Hannover, Projektleiterin Hildegard Azimi-Boedecker vom IBB e.V., Tatjana Kaaz von der LWK-Klinik in Dortmund und Lea Würzinger von der Feedback Fachstelle für Drogenberatung und Suchtvorbeugung Dortmund. Foto: IBB e.V. – Stephan Schütze

    Bei der Zielgruppe der Aussiedlerinnen und Aussiedler beobachtet das Ethno-Medizinische Zentrum eine teilweise auf Gruppendruck basierende Motivation zum Konsum harter Drogen wie Heroin, der dann eine HIV-Infektion zur Folge haben kann.

  •  In der heterogenen Gruppe der Geflüchteten komme teilweise eine Offenheit für starke Schmerz- oder Betäubungsmittel hinzu, die quasi als Selbstmedikation zur Verarbeitung von traumatischen Fluchterlebnissen eingesetzt werden.

Hildegard Azimi-Boedecker ergänzte in ihrem Impuls-Vortrag die herkunftsbedingt teilweise stark abweichende Einstellung gegenüber Betäubungsmitteln. So sei in Afghanistan und Iran Opium jahrhundertelang als ein bewährtes Heilmittel eingestuft worden gegen Schmerzen und ähnliches.  Aus der Not heraus werde Opium nicht selten sogar schon Kleinkindern verabreicht, da das Geld für Medikamente fehle. Ein weiterer Grund sei, dass Frauen besonders in Nordafghanistan bis zu 14 Stunden täglich arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Dies schaffen sie nur mit Opiumkonsum und sedieren auch ihre Kinder, da eine Betreuung fehlt. Entgiftung und Therapie sind  noch wenig ausgebaut, so dass auch bereits suchterfahrene Geflüchtete in Deutschland ankommen könnten. Im Iran ist Drogen- und Alkoholsucht auch ein Oberschichtphänomen von Jugendlichen –  oftmals Studierende beiderlei Geschlechtes – zur Kompensation der herrschenden, einengenden  Situation im Land. „Beide Länder haben ein riesiges Drogenproblem, das noch durch den massiven Opiumanbau in Afghanistan verstärkt wird.“

Im orientalischen Raum sei außerdem die Einstellung zu beobachten: Medizin muss stark sein und schnell wirken! Eine Haltung, die Polymedikation (Mehrfacheinnahmen) von Schmerzmitteln und synthetischen Drogen den Weg ebnet. In den Mahgreb-Staaten Nordafrikas und im Jemen sei Kat, ein berauschender Blättersaft ein offen zugängliches und angesehenes Genussmittel.

Im Workshop von Andrea Piest. Foto: IBB – Mechtild vom Büchel

Geflüchtete treffen in Deutschland hingegen auf eine „Trinkkultur“ mit eigenen Normen und Regeln, die erst erlernt werden müssen. Die Folgen leichten Alkohols wie Bier seien weniger bekannt. Nur Whisky oder Wodka zählten als „echter Alkohol“. All diese Prädispositionen müssten beim vorbeugenden Gesundheitsschutz mit berücksichtigt werden.

Ahmet Kimil hatte bereits am Vormittag gelungene Maßnahmen zur Vorbeugung vorgestellt wie das MiMi-Programm, die Interkulturelle Suchthilfe und Informationsbroschüren, die sprachlich auf die unterschiedlichen Herkunftsländer abgestimmt sind.

Tatjana Kaaz von der LWL-Klinik Dortmund, Lea Würzinger von der Feedback Fachstelle für Drogenberatung und Suchtvorbeugung Dortmund und Andrea Piest vom Notdienst für Suchtmittelgefährdete und -abhängige Berlin e.V. stellten in drei Workshops am Nachmittag neue Ideen sowie kultursensible Materialien zur Suchtprävention und Gesundheitsförderung vor. Ein kultursensibles Handbuch für die Beratung Suchtkranker und psychisch Erkrankter, eine spezielle App für Geflüchtete in Berlin zum Thema Sucht und  Anlaufstellen sowie eine Peer-Ausbildung, in der Geflüchtete anderen Geflüchteten helfen, sind vielversprechende Ansätze auch für die Region Dortmund, lautete das Fazit.

„Der Erfahrungsaustausch hat auch gezeigt, dass wir je nach Zielgruppe und Herkunftsland auf sehr unterschiedliche Tabus stoßen, insbesondere in der HIV-Prävention“, resümierte Hildegard Azimi-Boedeckerg. „Die Best-Practice -Beispiele ergeben auf der Landkarte zurzeit eher noch einen Flickenteppich. Hier besteht ein dringender weiterer Bildungs- und Vernetzungsbedarf, denn Suchtprobleme werden drängende soziale Probleme.“