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Internationales Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund

Netzwerktag Inklud: Mi ist erfolgreicher Abschluss des Projektes fokus4

Netzwerktag Inklud: Mi ist erfolgreicher Abschluss des Projektes fokus4

Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung und dem Verdacht auf eine Behinderung oder Beeinträchtigung brauchen eine gründliche kultursensible Differenzialdiagnostik und die mit ihnen befassten Fachkräfte benötigen dafür ausreichend Zeit. Denn bis zu 50 Prozent der jungen Geflüchteten haben in ihren Herkunftsländern oder auf der Flucht belastende Erfahrungen gemacht, die zu vorübergehenden oder bleibenden psychischen Beeinträchtigungen führen können, bei bis zu 30 % erwächst daraus eine Traumafolgestörung. Dieser Erfahrungswert wurde auf der Online-Tagung „Zugewanderte Familien mit Kindern: Teilhabe in Schule, Freizeit und Beruf bei Behinderung/Beeinträchtigung“ am Dienstag, 7. Februar 2023 – organisiert vom Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk e.V. in Dortmund – genannt.

„Wir prägen Lebenswege“

Die Zuweisung zu Regel- oder Förderschulen, in eine reguläre Ausbildung oder eine Werkstatt für Behinderte könne ebenso wie die Fehldiagnose einer physischen oder psychischen Einschränkung sehr weitreichende Folgen für die Betroffenen und ihre Familien haben. „Wir prägen Lebenswege“, riefen die Referentinnen den mehr als 50 Teilnehmenden in Erinnerung. Häufig werde in Ämtern und Beratungsstellen nach bewährten Handlungsmustern schnell und effizient nach einer Lösung gesucht, um möglichst schnell Therapien oder andere Fördermöglichkeiten zu erschließen. Dies sei aber nicht immer zielführend im Sinne der jungen Betroffenen und ihrer Familien.

„Bei Kindern und Jugendlichen mit Fluchterfahrung kann es allein schon aufgrund von Sprachproblemen dazu kommen, dass eine Behinderung oder Beeinträchtigung entweder falsch diagnostiziert wird oder auch nicht erkannt wird, obwohl therapeutische Hilfe nötig wäre“,

sagte Hildegard Azimi-Boedecker, Leiterin des Fachbereichs Beruf international und Migration im IBB e.V. Sowohl Beobachtungen als auch Gespräche können zu folgenschweren Fehlinterpretationen führen, da die Benennung von Symptomen in vielen Kulturen weniger direkt und umschreibend erfolgt und dadurch die Zuhörenden manchmal auf eine falsche Fährte führt. Zudem sehen sich Zugewanderte häufig konfrontiert mit einem aus ihrer Sicht verwirrenden System von Diagnosen, für die unterschiedliche Therapien und Fördermaßnahmen organisiert werden müssen. Kultursensible Kommunikation müsse daher auch das Vorwissen der Familien und die herkunftsgeprägte Haltung gegenüber Beeinträchtigungen und Behinderungen berücksichtigen. Sobald die Kinder schulpflichtig sind, stellt sich die Frage nach der geeigneten Schulform und ob die Kinder in den Regelunterricht aufgenommen werden können oder ob eine Inklusionsklasse oder Förderschule angeraten ist. Dies  gilt gerade auch aktuell durch die vielen neu zugewanderten Geflüchteten aus der Ukraine , Afghanistan und Syrien, die meist kaum Kenntnisse zum Hilfesystem hier haben. Daher ist es wichtig, das Thema wiederholt auf die Agenda von Fachtagungen und Fortbildungen zu setzen, was durch den Fachtag „Inklud:Mi“ seit nunmehr neun Jahren geschieht.

Wie die Weichenstellung in der Praxis erfolgt, erläuterten Laura Brathwaite und Britta Vohns von der Stadt Dortmund zu Beginn des Fach- und Vernetzungstages Inklud:Mi. Sie stellten zu Beginn die Arbeit des Dienstleistungszentrums Bildung vor, zu dessen Aufgaben die Vermittlung von neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen in Schulen und Berufsschulen gehört. Das DLZ Bildung halte auch mehrsprachige Informationen zu einer so genannten sonderpädagogischen Förderung bereit, ein Begriff, der Eltern aus Drittstaaten häufig nicht bekannt ist. Das erforderliche AO-SF –Verfahren werde meist von den Eltern, manchmal auch von den Schulen eingeleitet. Die Einschätzung einer Teilnehmerin, Eltern von Kindern mit Migrationshintergrund würden teilweise zur Einleitung eines AO-SF-Verfahren gedrängt, um die Regelschulen zu entlasten, konnten aus dem Kreis der Teilnehmenden, die unter anderem auch in Kommunalen Integrationszentren, Schulen und Beratungsstellen arbeiten, allerdings nur vereinzelt bestätigt werden. Gerade bei Kindern mit Fluchterfahrung werde beim Verdacht auf einen sonderpädagogischen Förderbedarf die besondere Situation eines Kindes mit Fluchterfahrung wie auch der gesamten Familie mit einbezogen. Denn sowohl die aktuelle Wohnsituation zum Beispiel auf beengtem Raum in einer Sammelunterkunft als auch belastende Erlebnisse vor oder während der Flucht können die Konzentrations- und Lernfähigkeit zeitweise oder auch dauerhaft beeinträchtigen.

„Wir haben eine ziemlich genaue Vorstellung, wie Vorbeugung und Versorgung definiert ist“

Im anschließenden Input über die Diagnostik, Früherkennung und Lenkung gab die Diplom-Pädagogin und Therapeutin Cornelia Kaiser-Kauczor aus Düsseldorf Impulse zu einem kultursensiblen und gleichzeitig gelassenen Blick auf das gesamte Umfeld des Kindes. Dabei müsse auch immer wieder das für die Kinder wie auch die Familien zumutbare Tempo berücksichtigt werden. „Manche Kulturen durchlaufen eine längere Phase des Leidens.“ In Deutschland dagegen werde vergleichsweise schnell und effizient nach Lösungen gesucht, was den Betroffenen nicht immer gerecht werde.

„Wir haben eine ziemlich genaue Vorstellung, wie Vorbeugung und Versorgung definiert ist. Aber dies deckt sich nicht unbedingt mit den Vorstellungen bei meinem Gegenüber.“ Sie schilderte das Beispiel eines geflüchteten Jungen auf Afghanistan, der nach seiner Ankunft in Deutschland fälschlich als geistig behindert eingestuft worden war und einen langen Leidensweg hatte, bis er sich von dieser Fehldiagnose lösen konnte. Ihr Tipp lautete daher, nicht unbedingt auf eine schnelle Diagnose zu setzen. Eine vorsichtige Verdachts-Diagnose könne den Weg zu Fördermöglichkeiten und Therapien öffnen, ohne Betroffene zu stigmatisieren. So könnten Eltern zum Beispiel in der Schule einen Nachteilsausgleich beantragen, wenn eine Lernschwäche als Folge belastender Erlebnisse nur vorübergehend ist. Dies verschaffe dem Kind Zeit, ohne dass sofort ein Wechsel auf eine Förderschule erwogen werden müsse.

„Es gibt ganz viel Hoffnung“

Bestätigt wurden ihre Ausführungen aus der Zuhörerschaft. So berichtete die Referentin und Traumapädagogin Jacqueline Gehrke vom Fall eines komplex traumatisierten Mädchens, welches  als geistig behindert eingestuft werden sollte, das wenig später aber nach traumatherapeutischer Behandlung den gesamten Unterrichtsstoff der Grundschule in nur eineinhalb Jahren nachholte. „Es gibt ganz viel Hoffnung!“, riet sie daher. „Nur nicht aufgeben. Und richtig behandeln!“

Über ihre Arbeit in der Beratungs- und Kontaktstelle für Menschen mit Migrationshintergrund und Behinderung in Dortmund berichteten anschließend Nigar Aliyeva und llona Prilla. Das Team des Vereins Lebenshilfe e.V. vermittelt Informationen über Fördermöglichkeiten für (neu) Zugewanderte und organisiert aktuell rund 180 Schulbegleitungen für Kinder und Jugendliche mit Unterstützungsbedarf im Auftrag der Stadt Dortmund. In der anschließenden Diskussion rankten sich Fragen um die Qualifikation der Schulbegleitungen, die meist aus „geeigneten“, also angeleiteten Erwachsenen oder Mitarbeitenden im Freiwilligen Sozialen Jahr rekrutiert werden. Einige Kommunen ermöglichen offenbar auch eine Schulbegleitung durch fachlich höher qualifizierte Integrationsassistenten oder –assistentinnen, wie eine Teilnehmerin aus dem Rhein-Sieg-Kreis berichtete. Dies könne auch davon abhängen, ob das Sozialamt oder Jugendamt zuständig ist. Seltener nachgefragt werde eine Schulbegleitung für ältere Schülerinnen und Schüler an Berufsschulen oder Berufskollegs, bestätigte Britta Vohns für Dortmund. Bei Bedarf könne jedoch auch hier Unterstützung gestellt werden. Kritisiert wurde die Haltung einiger Schulen, Schülerinnen und Schüler eine Teilnahme am Unterricht zu verweigern, wenn kurz- oder längerfristig keine Schulbegleitung zur Verfügung steht. Dies verstoße gegen geltendes Recht, sagte eine Teilnehmerin. „Die Schulpflicht gilt auch für den Staat!“

Selbsthilfe wird beim „Frühstück“ organisiert

In den anschließenden Workshops zur Stärkung der sozialen Teilhabe stellte der Verein MINA e.V. aus Berlin sein breitgefächertes Angebot für Zugewanderte mit Behinderungen vor. Statt von „Selbsthilfegruppen“ oder Angeboten für Angehörige von Menschen mit Behinderungen zu sprechen, habe es sich bewährt, von Angeboten für Väter, Mädchengruppen oder einfach „Frühstück“ zu sprechen. Tatsächlich werde bei solchen Frühstücks-Treffen jedoch überwiegend Selbsthilfe organisiert und niederschwellig Beratungsarbeit geleistet. Zudem werden einige Angebote nur in bestimmten Sprachen unterbreitet. „Wenn es um sehr persönliche Belange geht wie Krankheit oder Behinderung, dann spielt die Erstsprache doch eine wichtige Rolle“, so die Erfahrung von Ulrike Schwarz. Bisher gebe es daher Gruppen in türkischer und in arabischer Sprache. Weitere Gruppen für Zugewanderte, die russisch bzw. ukrainisch sprechen, seien aktuell in Vorbereitung. In der Theatergruppe, in den Sportgruppen oder beim Singen im Chor dagegen treffen sich Zugewanderte verschiedener Herkunftsländer. Sprachbarrieren spielen dort keine Rolle.

Hinsichtlich der Finanzierung der Angebote geht der Verein MINA e.V. kreative Wege: Eine Mitarbeiterin im Vorstand konzentriere sich auf die Gewinnung von Fördergeldern, die unter anderem aus kommunalen Mitteln zur Sportförderung, von der Aktion Mensch oder als Entlastungsleistungen aus der Pflegekasse kommen. Der Verein sei eng vernetzt mit den Sportvereinen vor Ort und den Behindertenbeauftragten. Und weil der Verein häufig gefragt werde, gebe es inzwischen eine Handreichung zur Nachahmung: „Es kann in jedem Bundesland so funktionieren wie bei uns, wobei es hier in Nordrhein-Westfalen ja zum Beispiel viele kleine Kommunen mit kleinen Behörden gibt“, sagte Ulrike Schwarz. Möglicherweise müssten Angebote vor diesem Hintergrund gebündelt werden.

Im Workshop interkulturelle Zugänge berichtete Traumapädagogin Jacqueline Gehrke von ihrer Arbeit im Psychosozialen Traumazentrum Hamm. Dort und auch vor Ort in der der zentralen Unterbringungseinrichtung für neu Zugewanderte in Hamm werde versucht in multiprofessioneller Zusammenarbeit möglichst frühzeitig vulnerable Gruppen zu erkennen. Psychische Beeinträchtigungen blieben den Fachkräften aber häufig verborgen, weil sie weniger offensichtlich sind als körperliche Beeinträchtigungen. Daher seien alle Mitarbeitenden für Problemlagen sensibilisiert worden, so dass bei Fragen Fachkräfte aus dem Psychosozialen Zentrum auf kurzem Wege schnell zu Rate gezogen werden können. Für eine psychische Stabilisierung der Betroffenen stehe Sicherheit fast immer an oberster Stelle. Da ein unsicherer Aufenthaltsstatus belastend wirkt, organisiert das Team in Hamm auch juristische Unterstützung. Diese Unterstützung schaffe Vertrauen und ermögliche dann im zweiten Schritt eine meist langsam wachsende Offenheit.

Stabilisierendes Umfeld ist von zentraler Bedeutung

Nach bisherigen Erfahrungen sei etwa jedes zweite zugewanderte Kind mit Fluchterfahrung traumatisiert. Für diese Kinder und Jugendlichen sei ein stabilisierendes Umfeld von zentraler Bedeutung. Das Problem potenziere sich noch, wenn Kinder in ihrer geistigen Entwicklung eingeschränkt und ihre Eltern, möglicherweise selbst durch Fluchterfahrungen und einen unsicheren Aufenthaltsstatus psychisch belastet sind. Die Traumapädagogin beschrieb das Fallbeispiel eines 14jährigen unbegleiteten Jungen aus Afghanistan, der durch Aggressionen gegen seine Betreuer und Mitbewohner aufgefallen war. Nach längerer Betreuung durch das psychosoziale Zentrum Hamm stellte sich heraus, dass der Junge in seinem Herkunftsland einen Überfall der Taliban und in der Folge den gewaltsamen Tod seines Bruders und eine schwere Verletzung seiner Schwester erlebt hatte. Danach hatte er sich allein in Richtung Europa aufgemacht und tragische Szenen auf einem Flüchtlingsboot miterlebt. Der Junge sei von seiner Angst und seinen Erinnerungen blockiert gewesen. Dennoch habe die Geschichte besprochen werden müssen, was zu einer Re-Traumatisierung führte. Dies sei jedoch für das Asylverfahren unvermeidlich. Die Teilnehmenden schilderten aus ihren Erfahrungen, dass vielfach Fachkräfte für Therapien fehlen oder weite Wege zurückgelegt werden müssen. Einzelne Teilnehmende berichteten aus ihrer Erfahrung, dass dies mit der Unterstützung von Ehrenamtlichen gelingt.

Im Workshop „Hinter dem Horizont“ konzentrierten sich Andreas Huckschlag, von EUTB mittendrin e.V. Köln und Eva-Maria Thoms vom Verein mittendrin e.V., auf Beschäftigungsperspektiven für junge Zugewanderte mit Behinderung oder Beeinträchtigung. Vielfach werde zuerst und allein an Werkstätten für Behinderte gedacht. Doch dort können junge Menschen keinen Berufsabschluss erlangen. Einmal im System sei es schwer, noch einmal zu wechseln. Deshalb stellten Eva-Maria Thoms und Andreas Huckschlag alternative Maßnahmen zur Eingliederung und beruflichen Teilhabe vor, die auch für diesen Personenkreis in Erwägung gezogen werden sollten. So könne zum Beispiel das Budget für Ausbildung nach §61a SGB IX genutzt werden.

„Wir können heute recht schnell einschätzen, was überhaupt realistisch ist.“

In einem weiteren Workshop „steps into work“ beschrieb Agnes Haß von der „ausblick hamburg“ gGmbH Wege in die Berufs- und Arbeitswelt für junge Geflüchtete mit Behinderung und unklarem Aufenthaltsstatus auch vor dem Hintergrund des neuen Chancen-Aufenthaltsrechts. Im Herkunftsland erworbene berufliche Qualifikationen müssen teilweise durch Nachschulungen ergänzt werden, Sprachkenntnisse meist verbessert. Für Beratende sei es häufig schwierig, notwendige Fördermittel für Zugewanderte zu erschließen, besonders wenn ihre Leistungsfähigkeit nicht nur vorübergehend beeinträchtigt ist. „Wir können heute recht schnell einschätzen, was überhaupt realistisch ist“, sagte die Referentin. Sie schilderte das Beispiel eines ledigen Kurden aus dem Irak, der nach eigener Aussage jede Arbeit antreten wollte, nur um nicht abgeschoben zu werden. Die Beratung und Begleitung durch „ausblick hamburg“ dauerte zwei Jahre und reichte von der Unterstützung mit Nachhilfe bei der weiteren beruflichen Qualifikation bis zu einer Vermittlung in Therapie und Gesprächsangebote in Krisensituationen. Heute sei er auf einem guten Weg, eine Ausbildung zum Sozialpädagogischen Assistenten abzuschließen. „Ausblick hamburg“ setzt sich nicht nur für die Hilfesuchenden ein, sondern betreibt auch Lobbyarbeit. Denn auch Geflüchtete mit Behinderungen und gesundheitlichen Belastungen, die einen ungesicherten Aufenthaltsstatus haben, müssten mit ihren Anliegen und Bedarfen sichtbar werden. Auch für sie gelte das Recht auf Teilhabe und die Anwendung der UN-Behindertenkonvention.

Die erfolgreich verlaufene Tagung mit Impulsen und praktischen Tipps wurde von den Tagungsteilnehmenden sehr positiv aufgenommen. Sie vermittelte handlungsorientiertes Know-How für die Arbeit und interkulturelle Sensibilisierung zugleich.

Die Online-Tagung war zugleich Abschluss des zweijährigen Projektes fokus4 und wurde durch den Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) der EU gefördert. Auf Grund der hohen Nachfrage ist bereits ein Folgeprojekt ab Herbst 2023 beantragt.

Die vollständige Dokumentation dieser Online-Tagung finden Sie hier.