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Projekt „Erinnern-inklusiv“: Der taube Historiker Mark Zaurov hat die Geschichte der Gehörlosen in der NS-Zeit erforscht

Projekt „Erinnern-inklusiv“: Der taube Historiker Mark Zaurov hat die Geschichte der Gehörlosen  in der NS-Zeit erforscht

Wie haben Gehörlose im Zweiten Weltkrieg Bombenangriffe überlebt? Wie standen Gehörlose zu den Nationalsozialisten und wie wurden sie von den Nationalsozialisten behandelt? Und mit welchen Strategien entkamen gehörlose Jüdinnen und Juden dem sicheren Tod? Der Historiker Mark Zaurov hat Zeitzeugen befragt, historische Dokumente ausgewertet und Literatur gesichtet. Die Ergebnisse seiner Forschungen zum „Deaf Holokaust“ – so der Titel seines im Jahr 2009 veröffentlichten Buchs – stellte er am 9. Juni 2023 in einem Online-Meeting im Rahmen des Projekts „Erinnern-inklusiv“ vor und räumte dabei mit mehreren Fehleinschätzungen auf.

Texttafel mit der Definition des Audismus als systematische Unterdrückung tauber Menschen in einer hörenden Welt. Zudem ist der Historiker Mark Zaurov bei seinem Vortrag zu sehen.

Historiker Mark Zaurov verdeutlichte in seinem Vortrag die systematische Unterdrückung tauber Menschen in einer hörenden Welt.

Gehörlose wurden im Menschen verachtenden System der Nationalsozialisten in aller Regel nicht wegen ihrer Taubheit verfolgt. In Arbeits- oder Konzentrationslager deportiert wurden Jüdinnen und Juden – unter denen es auch Gehörlose gab. In die tödliche Maschinerie der systematischen Krankenmorde gerieten psychisch- und Mehrfachbehinderte, die auch taub sein konnten. Aber: „Wir kennen bisher keinen Fall von jüdischen Menschen, die wegen ihrer Taubheit von den Nationalsozialisten verfolgt wurden und deshalb dem Kreis der Opfer der Aktion T4 zugerechnet werden müssen“, sagte Zaurov. In der damals so genannten Zentraldienststelle T4, in der Tiergartenstraße 4 in Berlin, wurde der systematische Massenmord an mehr als 70.000 Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen beschlossen.

Der Blick von außen auf die in Deutschland schätzungsweise etwa 40.000 Menschen zählende Minderheit der Gehörlosen sei bis heute geprägt von entwertenden Vorurteilen, die Taubheit mit einer geistigen Behinderung gleichsetzen, schilderte Zaurov. So werde Eltern von tauben Kindern heute mit dem Chochlea-Implantat, einer elektronische Innenohrprothese, eine schwere Operation empfohlen, um die Hörfähigkeit zu verbessern. Nach ihrem Selbstbild seien Gehörlose jedoch eine sprachliche Minderheit mit einer eigenständigen Kultur.

Titelbild der Veröffentlichung des Historikers Mark Zaurov mit dem Titel "Deaf Holokaust, deutsche taube Juden und taube Nationalsozialisten". Die Veröffentlichung ist in deutscher Gebärdensprache erschienen und erhältlich bei der Interessengemeinschaft Gehörloser jüdischer Abstammung, IGJAD.

„Deaf Holokaust, deutsche taube Juden und taube Nationalsozialisten“ heißt der Titel der Veröffentlichung des Historikers Mark Zaurov. Die DVD ist in deutscher Gebärdensprache erschienen und enthält ein Begleitheft. „Deaf Holokaust“ ist erhältlich bei der Interessengemeinschaft Gehörloser jüdischer Abstammung, IGJAD.

In der NS-Zeit gehörten Gehörlose nicht zu den systematisch verfolgten Opfergruppen. Unter den nicht-jüdischen Gehörlosen gab es auch begeisterte Nationalsozialisten. So lassen einige der erhaltenen historischen Fotos von den damals verbreiteten Gehörlosenvereinen eine stramm rechte Gesinnung vermuten. Teilweise sind Gehörlose in SA-Uniformen abgebildet. Ein Zweck dieser Vereine war das Ansparen von Mitgliedsbeiträgen, um älteren Mitgliedern einen Rentenzuschuss gewähren zu können. In der späteren NS-Zeit wurden jüdische Mitglieder aus diesen Vereinen ausgeschlossen und verloren ihren Anspruch auf die finanzielle Unterstützung, berichtete Zaurov.

„Aus Ungarn sind Berichte überliefert von sogenannten Pfeilkreuzern, die taube Juden aktiv verraten, ihre Wohnungen geplündert und damit geprahlt haben, an der Donau taube Juden erschossen zu haben.“ Und, so berichtete Zaurov weiter, es gab auch gehörlose Nazis, die die Entnazifizierung unbeschadet überstanden und mit vermeintlich weißer Weste weiterlebten.

Dennoch konnte die Taubheit in der NS-Zeit schmerzhafte Folgen haben und lebensgefährlich werden: Das von den Nazis 1933 erlassene Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses zum Beispiel betraf auch Gehörlose, die sich zum Teil sogar freiwillig zur Sterilisation meldeten. Das Gesetz regelte den seinerzeit äußerst schmerzhaften Eingriff in die Lebensplanung, der mindestens einen Teil der Betroffenen schwer traumatisierte. Aber auch gehörlose Jüdinnen und Juden in den Konzentrationslagern waren besonders gefährdet: Fiel beim Appell oder bei der Selektion von möglichen Zwangsarbeitern auf, dass eine Person nicht auf Worte reagierte, drohte die sofortige Erschießung. Die Taubheit werteten die Nationalsozialisten dabei weniger als Beeinträchtigung oder Behinderung, als vielmehr als Zeichen für eine fehlende oder eingeschränkte Arbeitsfähigkeit.

Aus dem gleichen Grund erschwerte die Taubheit die Auswanderung.  Einige  Länder nahmen zwar grundsätzlich Jüdinnen und Juden auf, verweigerten jedoch die Einreise, wenn sie gehörlos, und damit vermeintlich nicht arbeitsfähig waren.

Zeitzeugen berichten allerdings von besonderen Überlebensstrategien: So gaben Verwandte, Freunde oder andere Wohlgesonnene mit einem Fußscharren oder einem Fingerzeig geheime Signale, welche Reaktion jeweils erwartet wurde. Überlebende berichteten, dass es ihnen nur dank dieser Unterstützung gelang, ihre Taubheit zu überspielen und dem sicheren Tod zu entkommen.

Grafik aus der Präsentation des Historikers Mark Zaurov im Rahmen des Projekts "Erinnern-inklusiv": Hier werden zwei eindrucksvolle Kunstwerke aus der Ausstellung Deaf Holokaust in Dachau 2004 gezeigt.

Ausschnitt aus der Präsentation von Mark Zaurov: Die beiden Gemälde stehen als Beispiele für die Ausstellung „Deaf Holokaust“ in der Gedenkstätte Dachau im Jahr 2004. Screenshot: IBB Dortmund

Doch obwohl schon so Vieles aus der Geschichte der Gehörlosen heute bekannt sei, fänden sich kaum Hinweise in NS-Gedenkstätten, kritisierte Zaurov. Zwar gab es in der Gedenkstätte Dachau 2004 eine Ausstellung mit Werken eines tauben Künstlers, der die Folgen seiner Zwangssterilisation künstlerisch verarbeitet hatte. Doch auch diese Ausstellung sei nicht kulturell kontextualisiert worden.

Mark Zaurov hatte bereits zu Beginn seines Vortrags deutlich gemacht, dass Gehörlose auf einer persönlichen, institutionellen und kulturellen Ebene Diskriminierung erfahren. Der Audismus, die Herabwürdigung von nicht hörenden Menschen, beschreibe die systematische Unterdrückung, die den Zielen der UN-Behindertenrechtskonvention entgegen steht. Dabei gebe es seit vielen Jahrhunderten sowohl in der antik-griechischen als auch in der jüdischen Tradition auch viele wertschätzende Haltungen zu tauben Menschen, die sich auch heute nicht als Behinderte fühlen, sondern als Minderheit mit reicher Kultur und Tradition. Mark Zaurov setzt sich im Sinne einer inklusiven Erinnerung auch dafür ein, dass die differenzierte Geschichte der Gehörlosen in der NS-Zeit auch in Schulen gelehrt werden kann. Er hat Unterrichtsmaterialien in deutscher Gebärdensprache zusammengestellt, die über die Website der Interessengemeinschaft Gehörloser jüdischer Abstammung bezogen werden kann.

Kordian Kuczma, Bildungsreferent der Gedenkstätte Stutthof, ergänzte, dass die vergessene Geschichte der Gehörlosen auch in Polen erst seit einigen Jahren etwas mehr Beachtung findet. So habe es in Warschau ein Institut zur Bildung von Gehörlosen gegeben, dessen Schülerinnen und Schüler später Aufgaben im Warschauer Ghetto übernommen hatten und ausnahmslos überlebten. Sehbehinderte und Blinde seien eingesetzt worden, um mit ihrem guten Gehör nahende Flugzeuge zu identifizieren. Viele biografische Erinnerungen seien aber erst nach dem Mauerfall laut erzählt und für die Nachwelt gesichert worden.

Das deutsch-polnische Partnerschaftsprojekt „Erinnern-inklusiv“ organisiert die IBB gGmbH in Dortmund gemeinsam mit dem Museum Stutthof in Polen und dem Verein Schwarzenberg e.V. in Berlin. Das Projekt wird im Rahmen des EU-Programms „Bürger, Gleichberechtigung, Rechte und Werte“ gefördert.

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Alle Beiträge über das Projekt „Erinnern-inklusiv“ finden Sie hier.