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Projekt „Erinnern inklusiv“: Plädoyer für mehr Pragmatismus und weniger Perfektionismus beim Thema Inklusion

Projekt „Erinnern inklusiv“: Plädoyer für mehr Pragmatismus und weniger Perfektionismus beim Thema Inklusion

Ein klares Plädoyer für mehr Pragmatismus bei der inklusiven Öffnung von Gedenkorten zur Erinnerung an die NS-Zeit hielten Robert Parzer und Thomas Künneke beim Online-Meeting im Rahmen des Projekts „Erinnern-inklusiv“ am 15. Juni 2023 zum Thema: „Menschen mit Behinderungen als Akteure der Erinnerungskultur: Welche Rolle spielt die persönliche Betroffenheit?“

Robert Parzer, Historiker und Mitarbeiter der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden in Berlin, betreut seit 2010 die Website www.gedenkort-t4.eu. Sie ist ein virtueller Gedenk- und Informationsort. Das Informationsportal dokumentiert die europäische Dimension der sogenannten „Euthanasiemorde“ während der NS-Zeit. Die Aktion T4 bezeichnet die systematische Verfolgung und Ermordung von Menschen mit „Erbkrankheiten“ und Behinderungen, die von der Zentraldienststelle in der Tiergartenstraße 4 in Berlin organisiert wurde, abgekürzt T4.

Auf der Suche nach biografischen Spuren von Opfern und ihren Angehörigen bindet der Förderkreis Gedenkort T4 auch immer wieder Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen ein, wie Thomas Künneke, zweiter Vorsitzender des Förderkreises und Inklusions-Aktivist bei der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e. V. — ISL ergänzte. Er zitierte die These des US-Wissenschaftlers David Mitchell:

„Hadamar sollte für die Behinderten das sein, was Auschwitz für die Juden ist.“

Dieser Screenshot aus der Online-Session zeigt historische Dokumente im Zusammenhang mit den Krankenmorden und klein eingeklinkt den Referenten Robert Parzer.

Referent Robert Parzer (kleines Foto) lockerte seinen Vortrag mit Beispielen erhaltener Dokumente auf. Screenshots: Mechthild vom Büchel – IBB gGmbH Dortmund

Hadamar war eine der insgesamt sechs Tötungsanstalten der Aktion T4 und ist heute ein Gedenkort für Euthanasie-Opfer in Hessen. Auf der Grundlage des 1933 durch die Nationalsozialisten erlassenen „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurden Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen oder Beeinträchtigungen zwangssterilisiert. An die 300.000 Menschen wurden ermordet. Erst in den 1990er und 2000er Jahren wurde die Geschichte der systematischen Krankenmorde intensiver erforscht – auch mit Blick auf die Rolle des pflegenden Personals und der beteiligten Ärztinnen und Ärzte. Denn die schmerzhaften Eingriffe zur Zwangssterilisation wurden seinerzeit oftmals nicht einmal durch eine Narkose gemildert, die Todesspritzen teilweise durch Krankenschwestern verabreicht. Die systematischen Morde hinter den Mauern der Anstalten waren häufig auch in der Nachbarschaft der Einrichtungen bekannt.

Psychische Erkrankungen wurden medizinisch als „Idiotie“ und „Schwachsinn“ bezeichnet, Kinder mit Down-Syndrom galten als „boshaft“ und „zerstörungswütig“. Auch ihnen wurde im Nationalsozialismus das Recht auf Leben abgesprochen und sie sollten vernichtet werden. Welche Beeinträchtigungen genau vorlagen, etwa ob taube oder gehörlose Menschen betroffen waren, kann daher heute allein nach Aktenlage kaum mehr beurteilt werden. So gebe es in den überlieferten Akten immer wieder Hinweise, dass Opfer nicht sprechen, bestätigte Robert Parzer auf Nachfrage aus dem Kreis der Teilnehmenden. Nicht überliefert sei allerdings die Ursache: Waren es Gehörlose? Konnten sie nicht sprechen? Wollten sie nicht sprechen? Oder hatten sie aus Angst geschwiegen?

Dieser Screenshot zeigt eine der Zeichnungen von Wilhelm Werner und gehört zu den wenigen erhaltenen Kunstwerken, die zeigen, wie spätere „Euthanasie“-Opfer ihr Martyrium künstlerisch verarbeitet haben. Die Bezeichnung Sterelation stammt vom Künstler.

Die Zeichnungen von Wilhelm Werner gehören zu den wenigen erhaltenen Kunstwerken, die zeigen, wie spätere „Euthanasie“-Opfer ihr Martyrium künstlerisch verarbeitet haben. Die Bezeichnung „Sterelation“ stammt vom Künstler.

Beispielhaft stellten Parzer und Künneke die Biografie von Wilhelm Werner vor. Er war wegen einer psychischen Erkrankung zwangsweise sterilisiert worden. Später, im Jahr 1940, wurde er in der Gasmordanstalt Pirna-Sonnenstein im Rahmen der Aktion T4 ermordet. Wilhelm Werner hatte seine leidvolle Erfahrung der Zwangsbehandlung auf mehr als 40 Zeichnungen festgehalten, die erst vor wenigen Jahren in die Sammlung Prinzhorn in Heidelberg gelangten. Sie gelten heute als die einzigen erhaltenen Kunstwerke eines zwangssterilisierten Opfers des Nationalsozialismus. Wilhelm Werner sei ein Beispiel für ein Opfer der Nationalsozialisten, der durch seine Zeichnungen selbst zum Akteur der Erinnerung geworden sei, betonte Künneke. Erst langsam wachse das Bewusstsein, dass dieser Aspekt noch weitgehend unerforscht ist. Viele Fragen seien offen: Welche Strategien verfolgten zum Beispiel die damals schon bestehenden Verbände von Blinden und Gehörlosen, wenn sie ihren Mitgliedern die Zwangssterilisation ausdrücklich empfahlen? War dies eine mehr oder weniger erfolgreiche Überlebensstrategie, indem sie sich einsichtig und arbeitsfähig präsentieren wollten?

Wer eine inklusive Ausstellung oder ein Mahnmal zur Erinnerung an die Krankenmorde konzipieren wolle, stehe zudem immer auch vor der Frage: In welchem Maße können die grausamen Details dem Publikum zugemutet werden – zumal wenn Besucherinnen und Besucher zu dem Schluss kommen könnten, dass sie zur NS-Zeit selbst höchstwahrscheinlich zum Kreis der Opfer gehört hätten. Eine Entscheidung allein durch Gedenkstättenpädagoginnen und –pädagogen werde von Betroffenen heute als bevormundend empfunden. Robert Parzer und Thomas Künneke berichteten von für alle Seiten erhellenden Einsichten, die sich heute in der Zusammenarbeit von Menschen mit und ohne Behinderung ergeben, die sich diesem Kapital der Erinnerungskultur widmen. Der Austausch ermögliche allen Beteiligten ein stärkeres „Fühlen“ von Geschichte und stärke auch den Mut zur Selbstbestimmung bei Menschen mit Behinderungen.

Thomas Künneke empfahl grundsätzlich, eine Kommission zu bilden aus Menschen mit verschiedenen körperlichen und Sinnes-Beeinträchtigungen, um Gedenkorte auf ihre Barrierefreiheit hin zu testen: Perfektion sprenge möglicherweise den finanziellen Rahmen. Manche Barriere könne aber auch mit Kreativität und kleinem Budget beseitigt werden: „Aus unserer Arbeit weiß ich, dass Menschen mit Behinderungen über schlechte Lösungen schimpfen – aber noch mehr, wenn es überhaupt keine Lösung gibt.“

Robert Parzer fasste es am Ende so zusammen:

„In Wirklichkeit profitieren alle, wenn man nicht endlos viele Treppen steigen muss und die Geschichte in einfacher Sprache gut verständlich vermittelt wird.“

Das deutsch-polnische Partnerschaftsprojekt „Erinnern-inklusiv“ organisiert die IBB gGmbH in Dortmund gemeinsam mit dem Museum Stutthof in Polen und dem Verein Schwarzenberg e.V. in Berlin. Das Projekt wird im Rahmen des EU-Programms „Bürger, Gleichberechtigung, Rechte und Werte“ gefördert.

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Alle Beiträge über das Projekt „Erinnern-inklusiv“ finden Sie hier.