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Internationales Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund

Tagung „Sehnsuchtsziel Deutschland – Erwartungen und Erfahrungen bei Neuzuwanderung“: „Etwas weniger Aufgeregtheit würde den Diskursen guttun“

Tagung „Sehnsuchtsziel Deutschland – Erwartungen und Erfahrungen bei Neuzuwanderung“: „Etwas weniger Aufgeregtheit würde den Diskursen guttun“

Deutschland ist nicht das Sehnsuchtsziel Nummer 1 für hoch qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland. Besonders die Bürokratie sei „ein dramatisches Problem.“ Dr. Pau Palop-Garcia, Migrationsforscher beim DeZIM-Institut Berlin, räumte gleich zu Beginn der IBB-Tagung „Sehnsuchtsziel Deutschland – Erwartungen und Erfahrungen bei Neuzuwanderung“ am Donnerstag, 30. November 2023, mit Fehleinschätzungen auf.

Das Internationale Bildungs- und Begegnungswerks e.V. in Dortmund (IBB e.V.) hatte mehr als 70 Teilnehmende zur Online-Tagung begrüßt, die einen Überblick über den Stand der Forschung gab und auch beispielhaft den Erfahrungen von drei nach Deutschland Zugewanderten mit unterschiedlicher Migrationsgeschichte Raum gab.

„Mit unserer Auftaktveranstaltung im Projekt fokusplus möchten wir im Dialog mit Forschenden und Zugewanderten aktuelles Wissen zu Migration vermitteln und dazu beitragen, die Kommunikation von Migrant*innen mit Institutionen der Aufnahmegesellschaft und der Arbeitswelt zu verbessern“,  sagte Hildegard Azimi-Boedecker, Leiterin des Fachbereichs Beruf international und Migration im IBB e.V..

Die neuen Fortbildungsangebote des Projektes fokusplus von 2023-2026 greifen Erfahrungen aus den Vorgängerprojekten auf und bieten auch im Bereich der Fachkräftezuwanderung Schulungen für Interessierte an.

Dieser Screenshot zeigt eine Grafik und den Referenten Dr. Pau Palop-Garcia klein eingeklingt: Deutschland liegt demnach als mögliches Zielland für Auswanderer lediglich im Mittelfeld.

Deutschland ist bei weitem nicht die Nummer 1 für Fachkräfte aus Drittstaaten, die sich ernsthaft mit einer möglichen Auswanderung aus ihrem Herkunftsland beschäftigen. Dr. Pau Palop-Garcia (kleines Foto) verdeutlichte dies anhand einer OECD-Studie. Screenshot: IBB e.V. – Mechthild vom Büchel

Dr. Pau Palop-Garcia zitierte in seinem Vortrag die jüngste OECD-Studie: Demnach steht Deutschland als mögliches Zielland für ausgebildete Fachkräfte im Mittelfeld. Bei Studierenden dagegen belegt Deutschland Platz 2 hinter den USA. Dies sei „ein Zeichen, dass Deutschland etwas falsch macht“. Denn Studierende ziehen meist weiter. Wer Fachkräfte werben will, müsse sich aktiv bemühen.

Über ihre Erfahrungen mit der Einwanderung nach Deutschland berichteten eine Sozialarbeiterin aus Aserbaidschan, ein Veranstaltungskaufmann aus Syrien und ein Maschinenbauer aus Brasilien, der Deutschland als Student kennengelernt und einige Jahre nach Abschluss seines Studiums nach Deutschland zurückgekehrt war. Schwierig sei die Anerkennung von Berufsabschlüssen, berichtete die Sozialarbeiterin, die bereits vor 22 Jahren eingewandert war und zuvor in Aserbaidschan als Kunstlehrerin gearbeitet hatte. Auch der 2015 nach Deutschland geflüchtete Syrer hatte Probleme mit der Anerkennung seines Hochschulabschlusses in Betriebswirtschaft. Er nutzte die Wartezeit kurzentschlossen für eine Ausbildung zum Veranstaltungskaufmann. „Heute zählt bei Bewerbungen nur meine Ausbildung in Deutschland“, berichtete er. Der Maschinenbauer aus Brasilien musste sein erstes Flugticket nach Deutschland verfallen lassen. Das Visum lag nicht vor. „Es stellte sich heraus, dass der Sachbearbeiter schlicht vergessen hatte, es zu schicken“, erzählte er lächelnd.

Die Bürokratie sei eine besonders hohe Hürde bei allen Bemühungen um Fachkräftezuwanderung, berichteten Betroffene wie Referierende. So müssten Interessierte bis zu 15 Monate auf einen Termin zur Visums-Beantragung warten. Die Behörden seien schlicht überlastet. Belastend seien auch die oft befristeten Aufenthaltsgenehmigungen für die praktische Organisation des Alltags, erzählte der Kaufmann aus Syrien. „Ich hatte gedacht, ich könnte in Deutschland sofort arbeiten.“

Dieses Foto zeigt Dr. Roger Fornoff, Leiter des Lehrbereichs Deutsch als Fremdsprache an der Uni Köln, vor einem virtuellen Hintergrund der Universität, beim Vortrag im Projekt fokus plus: "Welche Werte dürfen wir erwarten?"

Dr. Roger Fornoff, Leiter des Lehrbereichs Deutsch als Fremdsprache an der Uni Köln, sensibilisierte in seinem Vortrag für die unterschiedlichen – offen ausgesprochenen und unausgesprochenen – Erwartungen an Zugewanderte. Screenshot: IBB e.V. – Mechthild vom Büchel

Dr. Roger Fornoff, Leiter des Lehrbereichs Deutsch als Fremdsprache an der Universität Köln, plädierte für eine Offenheit im Umgang mit Zugewanderten: „Es ist wichtig, dass wir wissen, es sind Stereotype, in denen wir denken.“ Jede Lehrkraft und jeder Mitarbeitende in einer Behörde repräsentiere ebenso ein „Mikromodell von Deutschland“, das Stereotype beim Gegenüber bestätigt oder irritiert. Mit Blick auf die aktuellen politischen Diskussionen im Kontext des Krieges in Nahost warnte er vor der Gefahr, „dass wir uns in Positionen eingraben und das Gegenüber nicht mehr wahrnehmen.“

Dr. Timo Tonassi, Lehrbeauftragter an der Georgetown Universität in Washington, bei seinem Vortrag im Projekt fokus plus: Er war aus den USA zugeschaltet und berichtete über die Ergebnisse seiner Forschung zu Einstellungen von Zugewanderten.

Dr. Timo Tonassi, Lehrbeauftragter an der Georgetown Universität in Washington, war aus den USA zugeschaltet und berichtete über die Ergebnisse seiner Forschung zu Einstellungen von Zugewanderten. Screenshot: IBB e.V. – Mechthild vom Büchel

Dr. Timo Tonassi, Lehrbeauftragter an der Georgetown Universität in Washington/DC, berichtete, dass es noch immer wenig empirische Forschung zu Einstellungen von Zugewanderten gibt. Er hatte für eine Studie im Jahr 2018 Zugewanderte aus Syrien, Afghanistan und Irak befragt. Ergebnis: Zugewanderte seien bereit, sich auf kulturelle Unterschiede einzustellen. Diskurse in Politik und Medien hätten allerdings einen großen Einfluss auf Integrationsprozesse. Sein Fazit: „Etwas weniger Aufgeregtheit würde den Diskursen guttun.“

Über das Projekt fokusplus:

Mit dem neuen Projekt fokusplus  knüpft das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk e.V. in Dortmund an die Vorgängerprojekte fokus – Fortbildungen kultursensibel – an und erweitert die Zielgruppe auf Akteure der freien Wirtschaft. fokusplus bietet mit Tagungen, Seminaren, Vorträgen und Inhouse-Schulungen aktuelles Wissen zur kultursensiblen Arbeit mit Zugewanderten aus Drittstaaten. Die Veranstaltungen richten sich an interessierte Haupt- und Ehrenamtliche in der Arbeit mit Zugewanderten im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswesen, in staatlichen Einrichtungen und in Unternehmen aus dem gesamten Bundesgebiet. fokusplus fördert zudem die Netzwerkbildung und den Erfahrungsaustausch.

Das Projekt „fokusplus“   wird kofinanziert durch den Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds der EU.

 

Die ausführliche Dokumentation der Online-Tagung finden Sie hier.

Weitere Informationen über das Projekt fokusplus  finden Sie hier.